Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Winnetou

Essay von Susanne Lüdemann und Elisabeth Hutter: „Karl May, Winnetou I

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Winnetou I erschien zuerst 1893 unter dem Titel Winnetou, Der rothe Gentleman, im Rahmen der damals durch den Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld neu konzipierten Buchreihe von Karl Mays Gesammelten Reiseerzählungen. Im selben Jahr erschienen dort auch noch die Bände Winnetou II und III. Winnetou IV (Winnetous Erben) dagegen entstand erst sehr viel später, 1910 (zwei Jahre vor Mays Tod). Für die Gesammelten Reiseerzählungen hat Karl May nur Winnetou I komplett neu geschrieben; Winnetou II und III sind im Wesentlichen aus früheren Erzählungen kompiliert, die May für die Reiseerzählungen überarbeitet und zusammengeflickt und denen er nur wenige neue Kapitel hinzugefügt hat. Der ‚Ur-Winnetou‘ ist also noch wesentlich älter als 1893; Vorläuferfiguren lassen sich bis zu den Erzählungen Old Firehand und Inn-nu-woh der Indianerhäuptling von 1875 zurückverfolgen. Mays eigenen Angaben zufolge1 ward der „Gedanke ‚Winnetou‘“ aber schon in der Zeit seines zweiten Gefängnisaufenthalts „geboren“ (er war bekanntlich wegen Trickdiebstahls, Betrugs und Hochstapelei von 1865-1868 im Arbeitshaus Schloss Osterstein in Zwickau und von 1870 bis 1874 im Zuchthaus Waldheim nördlich von Chemnitz interniert).

Zweierlei erscheint an dieser Entstehungsgeschichte bemerkenswert: Zum einen, dass Karl May buchstäblich im Gefängnis zum Schriftsteller – und zwar ausgerechnet zum Reiseschriftsteller – geworden ist. Zum anderen, dass er sich in der Figur des Apachenhäuptlings Winnetou einen imaginären Begleiter geschaffen hat, dem er fast durch sein ganzes schriftstellerisches Leben, 35 Jahre lang, treu geblieben ist.

Mit Karl May haben wir damit wohl einen exemplarischen Fall der Entstehung von Literatur aus dem Tagtraum vor uns, dessen wunscherfüllenden Charakter Sigmund Freud vor allem an der sogenannten ‚Trivialliteratur‘ mit ihrer herabgesetzten Sublimierungsschwelle zu studieren empfahl.2 In den Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung spricht Freud auch vom „Tagtraumroman“ und gebraucht dafür als Synonym den englischen Ausdruck continued story, Fortsetzungsgeschichte (an anderer Stelle3 auch rêve, petit roman, day dream, story): „Es knüpft dann ein Traum an den anderen an, nimmt ein Element zum Mittelpunkt, welches im Vorhergehenden beiläufig gestreift wurde, u. dgl.“4 Diesem Prinzip folgt auch das Werk Karl Mays, das ja weniger aus einer Reihe in sich geschlossener Gebilde besteht (weder formal noch inhaltlich) als dass es eine einzige riesenhafte, alle Buchgrenzen überschreitende Phantasielandschaft bildet, die Leser wie Autor ad libitum immer wieder neu betreten können und die sich, vor allem in den Reiseerzählungen, auf den real existierenden Globus projiziert. Diese Phantasielandschaft kennt dann zwar distinkte Weltgegenden – etwa die Paarung Old Shatterhand / Winnetou im ‚Wilden Westen‘ und die Paarung Kara Ben Nemsi / Marah Durimeh im ‚Orient‘ –, aber es gibt dazwischen auch Querverbindungen, allerlei Wiedergängereien, und zusammengehalten wird das Ganze ohnehin von Mays grandiosem Erzähler-Ich, „Seiner Majestät dem Ich, dem Helden aller Tagträume wie aller Romane”5, wie Freud in Der Dichter und das Phantasieren schreibt, dessen Haupteigenschaft vor allem in seiner Unverletzlichkeit besteht.

Trivial ist es natürlich auch, auf den kompensatorischen Charakter von Trivialliteratur und der in ihr erfüllten Tagträume hinzuweisen, aber dass Winnetou und Old Shatterhand dem Zuchthaus Waldheim entsprungen sind, und in ihm dem Hirn (oder eben den Tagträumen) eines zur Immobilität verurteilten Sohnes aus den allerärmsten Verhältnissen des Deutschen Kaiserreichs, geboren als fünftes von insgesamt 14 Kindern im Sächsischen Weber-Milieu, scheint dann doch nicht ganz belanglos für das Verständnis dieses phantasierten “Wilden Westens”, in dem, anders als in Deutschland, weder Geburtsvorrechte noch Besitz noch angemaßte Privilegien zählen, sondern alleine die individuellen Fähigkeiten der Persönlichkeit (moralische ebenso wie körperliche), die sich erst im Wilden Westen voll ausbilden und entfalten können.

Dennoch gehen Mays Winnetou-Romane im Wild- & Wunschphantastischen nicht auf, vielmehr verbindet sich das Phantastische in ihnen mit allerlei literarischen Reminiszenzen, die vom mittelalterlichen Âventiure-Schema bis zum Bildungsroman des 19. Jahrhunderts reichen.

"Daß ich dir‘s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte."6

So lautet eine berühmte Stelle aus Johann Wolfgang von Goethes exemplarischem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (aus einem Brief des Titelhelden Wilhelm Meister an seinen zuhause gebliebenen Kaufmanns-Freund Werner). In einem Roman, den es noch nicht gibt, könnte Karl May einen vergleichbaren Brief aus dem Zuchthaus Waldheim an einen Freund in Ernstthal (seinem Geburtsort in Sachsen) schreiben.

Wilhelm Meister führt sein Ausbildungsbegehren in Goethes Romans auf’s Theater (seinen Autor Goethe führte es aus dem Frankfurter Bürgerhaus an den Weimarer Musenhof): „Auf den Brettern“, so geht Wilhelms Brief in den Lehrjahren weiter, „erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Körper müssen bei jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen können als irgend anderswo. [...] Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen verändern, weil ich mich ohnehin schäme, als Meister aufzutreten.“7

Old Shatterhand – respektive ein namenloses „Greenhorn“ mit dem Helden-Titel „Ich“ – führen „unerquickliche Verhältnisse in der Heimat, der Wunsch, [s]eine Kenntnisse zu erweitern, und ein angeborener Tatendrang“8 nach Amerika (seinen Autor Karl May aus der Kleinkriminalität und Zuchthaushaft zur Erfolgsschriftstellerei, speziell in seinem Fall ebenfalls eine Art von Theater). Im Wilden Westen erscheint auch Old Shatterhand „so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Körper gehen bei jeder Bemühung gleichen Schritt, und er ist und scheint dort so gut als irgend anderswo“ (im Westen, im Osten, auf dem Theater: gleichviel). Goethes Titelheld, der „sich schämt, als Meister aufzutreten“ (der freilich in seiner Scham schon seinen Namen beim Wort genommen hat) steht indes im anfangs namenlosen Greenhorn „Ich“ bei Karl May ein Held gegenüber, der von Probe zu Probe neu getauft, neu geadelt und neu eingekleidet wird und der sich keine Bohne dafür schämt: Wunscherfüllung pur, von „Entsagung“9 keine Spur. Auswanderung ‚auf eigene Faust‘ zudem und nicht im notorisch Wilhelm Meisterischen Bunde.

Die Ansicht Helmut Schmiedts, Karl May habe mit dem ‚Wilden Westen‘ „das Bild einer offenen, allen hierarchischen Verfestigungen abholden Gesellschaft“10 beschrieben, geht vielleicht zu weit; jedoch wird auf die Trias von Lehrling (alias „Greenhorn“), Geselle und Meister in Winnetou I immerhin angespielt, und die auch im Wilden Westen existierenden Hierarchien – die Rangordnung unter den Landvermessern und die Stammeshierarchie der Indianer – erweisen sich für den sich bewährenden Helden als geradezu märchenhaft durchlässig, sodass er binnen kurzem vom „Greenhorn“ zum berühmten Westmann und Mithäuptling der Apachen aufsteigt. Überlegene Körperkraft, List und moralisches Edelmenschentum stechen in Winnetou I ererbte oder verliehene Privilegien.

„Dick und Will, kommt doch mal her, und seht euch diesen deutschen Surveyor an! Was soll man aus ihm machen?“ „Einen Gesellen“, schmunzelte Stone. „Einen Gesellen? Was meinst du damit?“ „Er hat abermals bewiesen, daß er kein Greenhorn mehr ist, kein Lehrling. Wir wollen ihn zum Gesellen machen; später kann er dann Meister werden.“11

So heißt es in Winnetou I nach Old Shatterhands siegreichem Kampf mit „Blitzmesser“, dem stärksten Krieger der Kiowas (in Mays manichäischem Universum die ‚bösen‘ Indianer, im Gegensatz zu den ‚guten‘ Apachen). Bis zu diesem Punkt haben wir es in Winnetou I mit einer ausgeprägten Struktur sich steigernder Proben zu tun, die an die mittelalterliche Âventiure-Kette erinnert: vom Kampf mit dem Rotschimmel im ersten Kapitel über die Bison- und Mustangjagd und den Kampf mit dem Grizzlybären in den folgenden bis eben hin zum Zweikampf mit „Blitzmesser“, wobei sich nicht nur die Größe und Gefährlichkeit der Gegner, sondern auch die Zahl der Zuschauer beständig steigern. Parallel dazu wird Old Shatterhand mit allen möglichen Attributen versehen: dem Rotschimmel und dem Bärentöter im ersten Kapitel, dem betäubenden Faustschlag an die Schläfe und dem daraus folgenden „Kriegsnamen“12 Old Shatterhand im zweiten, und es ergeben sich allerlei Lektionen (im Spurenlesen, im Anschleichen usw.). Die anderweitige Handlung scheint nur dazu da, die Lücken zwischen den Proben auszufüllen, diese in Szene zu setzen und damit den Helden des Geschehens als solchen zu erweisen.

Diese Probenstruktur ist in der Forschung auf verschiedene Weise interpretiert worden. Gerhard Neumann rechnet sie dem Paradigma des Bildungsromans zu, und zwar dessen zweiter Variante, die er, ausgehend von Goethes Wanderjahren, als Paradigma des Spurenlesens und damit als „konjekturales Paradigma der Moderne“ definiert:

"Es ist der Lebensgang des durch Bildung, d. h. aber durch Lesen-Lernen von Zeichen, vom Schüler zum Meister gewordenen Helden. Im Roman Karl Mays könnte man die Krise, die diesen Lernprozeß auszeichnet, und die Lösung, der sie zugeführt wird, als das ‚Greenhorn‘-Syndrom und seine Sanierung kennzeichnen; der immer als Schüler verkannte und sich immer erneut in seiner Vollkommenheit offenbarende Meister; die Entdeckung des Selbst also als Offenbarung verborgener Meisterschaft – eine zuletzt charismatische Identitätslegitimation, alle Normen, Einschränkungen und Bedingungen überstrahlend. Aber dann, auf der andern Seite, eine zweite, entgegengesetzte Struktur, die den Lernprozeß des Helden kennzeichnet: nämlich die der Entbergung nicht des eigenen Selbst, sondern des fremden und feindlichen, welches das des ‚Anderen‘ ist, des Kontrahenten und gejagten Wildes – ich meine: die Struktur des Detektivromans. In ihm geht es um die Entlarvung des Verbrechers als Ziel einer Bildungs- als Lerngeschichte: der Held als Diagnostiker und Spurenleser, der sich und seine Selbst-Bildung an der Ergreifung des Gejagten bewährt – ein Grundmodell des Erkennens, das dem Selbst- Erkennen komplementär zugeordnet ist: in der Wahrnehmung des A n d e r e n erfolgt die Beglaubigung des e i g e n e n Selbst. Letztlich also praktiziert der zweite Typus des Bildungsromans ein Spuren-Lesen in einer doppelten Richtung: auf das Selbst u n d auf den Anderen hin. Der Winnetou-Roman ist hierfür ein glänzendes Zeugnis. Die Entwicklung des Doppel-Helden Winnetou-Old Shatterhand – als Lern- und Belehrungsprozeß sich enthüllend, der der Namen-Gewinnung des Helden dient – läuft ja der Entzifferung der Anonymität (oder Polynymität) des Verbrechers Santer parallel."13

Von den grüblerischen und melancholischen Helden deutscher Bildungsromane unterscheidet sich Old Shatterhand freilich darin, dass sein ‚Bildungsgang‘ eine eigentliche Krise und eine eigentliche Frage nach seiner Identität, oder gar Zweifel daran, gar nicht kennt. Old Shatterhand muss sich selbst gar nicht erst lesen, weil er ja immer alles schon weiß; er muss auch nichts lernen (oder fast nichts), weil er ja alles schon kann (weil er es zuhause in Deutschland „in einem Buche gelesen hat“, wie die stereotype Formel in Winnetou I lautet). Old Shatterhand kennt sich von der ersten Zeile des Romans an, und er bleibt sich immer gleich. Bewähren muss er sich allenfalls in den Augen der anderen, und das Ergebnis steht auch immer schon fest – nicht zuletzt das macht die Winnetou-Romane letztenendes, trotz aller action, wenig spannungsreich. Irgendwelche interessanten psychologischen Krisen, Abgründe, Umwege und Verirrungen sucht man in ihnen vergebens, die Möglichkeit des Scheiterns gibt es in ihnen höchstens pro forma, die Helden – im Guten wie im Bösen – sind psychologisch letzten Endes komplett flach. In diesem Zug verweisen die Winnetou-Romane daher eher auf vormoderne Erzählmuster. Im Zusammenhang Karl Mays immer wieder genannt werden John Bunyans The Pilgrim’s Progress und seine Derivate, es wird genannt das Schema der Initiation oder Heldenreise14, und, last but not least, das Schema der mittelalterlichen Heiligenlegenden. So hat beispielsweise Gunter G. Sehm15 Winnetou I als säkularisierte Heiligenlegende gedeutet und dafür eine Fülle von Argumenten beigebracht, damit aber vor allem das gegen alle Regeln der Logik und der Wahrscheinlichkeit verstoßende Superheldentum Old Shatterhands erklärt, das ja unwandelbar von der ersten Zeile an besteht, auch wenn die anderen ihn für ein „Greenhorn“ halten. Die Bewährungsproben, die er bestehen muss, sind nur dazu da, ihn vor der Welt als „Erwählten“ zu enthüllen.

"Wie im Heiligenprozeß gegen den ständigen Widerspruch des advocatus diaboli bewiesen wir, dass der zu Kanonisierende die vorgeschriebenen Normen der Heiligkeit erfüllt hat, so tut Old Shatterhand nichts anderes, als gegen den Widerstand böser Gegner, seien es Menschen, Tiere oder Naturgewalten, nachzuweisen, daß die anfängliche Etikettierung ‚Greenhorn‘ falsch ist, er vielmehr seinen späteren Titel Old Shatterhand zurecht trägt und damit die Figur ‚edler Held‘ beispielhaft repräsentiert."16

Und wie der Erwählte fühlt sich Old Shatterhand ja auch wie keiner sonst im Roman immer wieder dazu berufen, wo nicht Gott, so doch die Werte des Christentums zu ‚beweisen‘ (bis hin zur Bekehrung Winnetous kurz vor seinem Tod im dritten Band). Old Shatterhand als „Ritter in Mönchskutte“17 oder miles Dei also: sein „Gehorsam gegen die Ordensregeln der eigenen moralischen Existenz“18 spricht ebenso dafür wie sein zölibatäres Dasein – die durch deren frühzeitigen Tod beendete kurze Liaison Old Shatterhands mit Winnetous Schwester Ntscho-tschi scheint nur dazu da, seine Prädestination zu Höherem zu erweisen; Krankheiten heilen kann er im übrigen auch. Neben diesen Grundzügen nennt Sehm noch eine ganze Reihe von Einzelmotiven, die sich auch in Heiligenlegenden finden, so z. B. das Motiv der Gefangenenbefreiung (in der Legenda aurea), das Motiv der Unsichtbarkeit (wenn Gott die Heiligen oder ihre Schutzbefohlenen vor ihren Feinden verbirgt), bei Karl May rationalisiert zum ungesehenen Anschleichen und Belauschen und zum Verleugnen der eigenen Identität (in Winnetou II und III, wenn Old Shatterhand, dem sein Ruf inzwischen schon durch den ganzen Wilden Westen vorauseilt, sich nicht zu erkennen gibt und deswegen von seinen Gegnern unterschätzt wird), das Moment der Erstarrung des Gegners, das Motiv der hilfreichen Tiere und schließlich das Gottesurteil, das sich in rationalisierter Form im Zweikampf zwischen Old Shatterhand und Intschu Tschuna findet.

Was (auch) aus diesem Schema fällt, ist freilich die homoerotische Liebesgeschichte zwischen Old Shatterhand und Winnetou, die – neben der Rache für den Mord an Klekhi-petra – den zweiten Teil von Winnetou I beherrscht (und die wahrscheinlich, da hatte Arno Schmidt19 schon recht, neben den deutschnationalen Größenphantasien den eigentlichen Triebreiz der Winnetou-Romane ausmacht oder ausgemacht hat). Ein Motiv wie die von Old Shatterhand bei der Befreiung Winnetous aus der Gefangenschaft der Kiowas als Beweismittel zurückgehaltenen Haarlocke20 ist in dieser Hinsicht höchst interessant: Old Shatterhand trägt den Beweis, der ihn vor dem Marterpfahl retten könnte, die ganze Zeit bei sich, setzt ihn aber erst ein, als er ihn nicht mehr braucht – was ihm einerseits Gelegenheit zu weiteren Bewährungsproben gibt, andererseits die Umdeutung des Unschuldsbeweises zu einer Art geraubtem Liebespfand oder Fetisch erlaubt: „Die Haarlocke Winnetous habe ich auf allen meinen Wanderungen durch den Westen bei mir getragen und besitze sie noch heute.“21 Besiegelt wird der Treuebund bekanntlich durch die berühmte Blutsbrüderschaft, durch die Old Shatterhand und Winnetou zu „eine[r] Seele mit zwei Körpern“22 verschmelzen.

Es lassen sich weitere Reminiszenzen ausmachen – Jung-Siegfriedhaftes zum Beispiel, wenn Old Shatterhand zu Beginn von Winnetou I von Henry the Gunsmith mit dem Bärentöter ausgestattet wird, zu Beginn von Winnetou II dann mit dem magischen Henrystutzen; auch James F. Coopers Modell der amerikanischen frontier novel ist natürlich überall präsent. All diese verschiedenen Muster und Gattungen, die sich in den Winnetou-Romanen ausmachen lassen – vom höfischen Roman über die Heiligenlegende und die Pilgerallegorie bis hin zum Bildungsroman und zur Detektivgeschichte des 19. Jahrhunderts –, schließen einander freilich nicht aus, in ihrer May-typischen Reduktion auf Grundzüge abenteuerlichen Erzählens ergänzen und verstärken sie sich vielmehr gegenseitig. In ihrer synkretistischen Mischung aus Wunschphantastischem und Lektürefrüchten through the ages mutet die Winnetou-Trilogie so am Ende fast an wie ein postmoderner Roman avant la lettre. Von absichtsvollem Tun wird man bei alledem kaum sprechen können, eher darf man die „sorglose Unbewusstheit“23 bewundern, mit der sich dem Trance-Schreiber Karl May die eigenen Tagträume ins kulturelle Reservoir alter und neuer Geschichten und Legenden verwoben. Ihren enormen Erfolg verdanken die Winnetou-Romane wahrscheinlich genau dieser Mischung, die einen doppelten Wiedererkennungs-Effekt begründet: die Identifizierung des Lesers mit dem Helden ebenso wie beider Einkehr in einen gemeinsamen Raum der Schrift.

Endnoten: 

1 Karl May: Mein Leben und Streben und andere Selbstdarstellungen. In: Ders.: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung. Abt. IV, Autobiographische Schriften I. Hg. v. Hainer Paul u.a. Bamberg / Radebeul: Karl-May-Verlag 2012, S. 120.

2 Sigmund Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“. In: Ders.: Gesammelte Werke VII. Werke aus den Jahren 1906-1909. Hg. v. Lilla Veszy-Wagner. Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 211- 223, hier S. 219.

3 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke II/III, Frankfurt a. M.: Fischer 1961, S. 495.

4 Sigmund Freud: „Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung“. In: Ders.: Gesammelte Werke XIII. Werke aus den Jahren 1920-1924. Hg. v. Lilla Veszy-Wagner. Frankfurt/M.: Fischer 1967, S. 303-314, hier S. 304.

5 Sigmund Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“, S. 220.

6 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Ders.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Bd. 7. Hamburg: Beck 1960, S. 289.

7 Ebd., S. 291.

8 Karl May: Winnetou. Erster Band. Reiseerzählung von Karl May. Nach der 1960 von Hans Wollschläger revidierten Fassung neu herausgegeben von Lothar Schmidt. Bamberg: Karl-May- Verlag 1992, S. 11-12.

9 Entsagung (Triebverzicht, Sublimierung) ist ein wichtiges Motiv in Goethes Wilhelm Meister, dessen zweiter Band den Titel Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden trägt.

10 Helmut Schmiedt: „Winnetou I-III“. In: Karl-May-Handbuch. Hg. v. Gert Ueding. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 174-183, hier S. 176.

11 Karl May: Winnetou. Erster Band, S. 254.

12 Ebd., S. 49.

13 Gerhard Neumann: „Karl Mays Winnetou – ein Bildungsroman?“. In: Jahrbuch der Karl-May- Gesellschaft 1988. Hg. v. Claus Roxin. Husum: Hansa Verlag 1988, S. 10-37, hier S. 19.

14 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Neuausg. Frankfurt/M.: Insel-Verlag 2011. #

15 Gunter G. Sehm: „Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays Winnetou-Trilogie“, In: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1976. Hg. v. Claus Roxin. Husum: Hansa Verlag, S. 9-29.

16 Ebd., S. 12.

17 Ebd., S. 17.

18 Ebd., S. 18.

19 Vgl. Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt/M.: Fischer 1998.

20 Karl May: Winnetou. Erster Band, S. 223.

21 Ebd., S. 229.

22 Ebd., S. 368.

23 Gunter G. Sehm: „Der Erwählte“, S. 26.