Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Die Spur des Abenteuers. Textlandschaften und Erzählwege in Peter Handkes „matière d’Espagne“

Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel
Prof. Dr. Alexander Honold (Mercator-Fellow)


handkePeter Handke. © Renate von Mangold

Dem lateinischen Wortsinne nach evoziert die Begrifflichkeit der âventiure die inkalkulable Dynamik des aus der Zukunft Herankommenden, an dem die Gegenwart ihre Kräfte misst. Im Abenteuer verdichtet sich die temporal zwiefältige Begegnung Gewappneter mit demjenigen, worauf man sich nicht vorzubereiten vermag. Das im Artuskreis etablierte Heldennarrativ des dreiphasigen ritterlichen Kursus von Ausfahrt, Bewährungsprobe(n) und ruhmreicher Rückkehr überwölbt die episodische Reihe von Einzelerlebnissen mit einer übergreifenden rekursiven Sinnstruktur, in der für Protagonisten, Erzähler und Publikum die Kontingenzeffekte eintretender abenteuerlicher Situationen durch deren makrostrukturelle Einbettung in das Kursus-Schema je schon teleologisch perspektiviert erscheinen. In der neuzeitlichen und modernen Abenteuer-Diegese hingegen kann eine Schließung der Divergenz von Erwartungshorizont und Erfahrungsraum (Koselleck) nicht mehr durch einen präfigurierten Kursus erfolgen. Bis in die unmittelbare Gegenwart sind es insbesondere die Spielarten der abenteuerlichen Reise­erzählung mit ihren Handlungskonzepten der geographischen Exploration und des ethnographischen Fremdkontakts, die ein ästhetisches Bewusstsein für globale Ungleich­zeitigkeiten sowie für die Koexistenz disparater Lebenswelten und Sinnhorizonte wachhalten oder aufs Neue stimulieren.

Unter den Gegenwartsautoren, die aus den Transformationen des Reisenarrativs neue Gestaltungsmöglichkeiten des Spannungsverhältnisses zwischen textuellem Vorwissen und diegetischer Erlebnis-Kontingenz schöpfen, ragt Peter Handke in mehrfacher Hinsicht heraus. Zum einen, indem er literarisch in eine dezidierte Oppositionshaltung zu den Erscheinungs­formen der postindustriell digitalisierten Lebenswelt tritt und in seinem Erzählwerk gegen die Funktionalität der Verkehrs-Infrastrukturen den Eigensinn und die Sonderwege des Zu-Fuß-Gehens proklamiert; hier steht sein Narrationsmodus in Analogie zu Darstellungen pedestrischer Landschaftserkundung u. a. bei W. G. Sebald, Wolfgang Büscher, Ian Sinclair und Esther Kinsky. Zum zweiten, indem Handke sein Prosaschaffen seit langem und poetologisch konsequent gegen den modernen Romanbegriff absetzt und dabei selbst längere, komplexe Narrationen als ein mündlich basiertes, von Selbstbefragungen und Fremdeinwürfen durchzogenes Mitteilungsgeschehen in Szene setzt. Hand in Hand mit diesem ‚gegenmoder­nen‘ Insistieren auf subsistenznahen Erzählverhältnissen kehren auch die Gestaltungsformen der episodischen Reihe, der strukturbildenden räumlichen Wegstrecke und des präfigurierten Sinnhorizonts ins Erzählen zurück; sie bilden bei Handke die Ingredienzen reflektierter, mit metafiktionaler Ironie eingesetzter Abenteuer. Wiederholt bezieht sich der Schriftsteller dabei auf die tradierten chevaleresken Stoffe und Erzählmuster des Hochmittelalters, etwa den Yvain Chrétiens und Hartmanns von Aue, der besonders in Handkes Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus eine obstinate Begleitreferenz darstellt. Vor dem Hintergrund mediävistisch einschlägiger Handlungsmuster schafft bei Handke das Erzählkonzept Abenteuer einen fiktionalen Imaginationsraum, in dem sich der Prozess topo­graphischer Exploration schrittweise zugleich als eine multi-optionale Auslegung des evozierten intertextuellen Beziehungsnetzes begreift.

Das Reisenarrativ und die Anderwelten des Wunderbaren, Sagenhaften und Legendären gehen in Handkes Erzählwerk unterschiedliche Legierungen ein; hierbei bilden die mehrheitlich in Spanien spielenden oder mit hispanisch-romanischen Sujets arbeitenden Texte eine eigene Werkreihe, die etwa den Jugoslawien-Texten oder auch den nordamerikanischen road novels als eigenständiger Motivbereich gegenübersteht: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997), Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002) und Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004). Von Chrétiens Yvain über Cervantes’ Don Quijote und Tirso de Molinas Don Juan bis in das Western-Ambiente eines filmisch-imaginären „Santa Fé“ beleuchtet Handkes Erzählreihe je neue Interferenzen von topographischem Terrain und elementarliterarischen Sinnbezügen. In Anlehnung an die drei topischen matières mittel­alterlicher Erzählstoffe kann diese franko-hispanische Erzählwelt Handkes als seine matière d’Espagne bezeichnet werden.