Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Arthur Gordon Pym

Essay von Vid Stevanović: „Abenteuer – Mystery – Mystification”: Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket

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A sea story

The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket ist der einzige Roman Edgar Allan Poes. Doch als der Text 1838 bei Harper in New York erscheint, ist er weder als Roman gekennzeichnet, noch war er zunächst als solcher geplant. Die Langform verdankt der Text, der sich als Tatsachenbericht inszeniert, weniger dem Autor als seinen Verlegern. Als Poe 1836 die Veröffentlichung einer Kurzgeschichtensammlung bei Harper anstrebt, legen die Herausgeber ihm nahe, stattdessen an einem längeren Einzeltext zu arbeiten – Poes Kurzgeschichten seien „too learned and mystical“1 für den Geschmack der Leserschaft. Poe verfasst also eine längere Erzählung, die gegen diese Vorwürfe geschützt zu sein scheint, da sie sich als Reisebericht des einfachen Seefahrers Arthur Gordon Pym ausweist. Im angeblich von Pym selbst verfassten Vorwort wird dafür eine komplexe Herausgeberfiktion in Stellung gebracht. Der Text, so das Vorwort, erzählt die Geschichte von Pyms abenteuerlichen Fahrten. Nur ein kurzer Teil am Anfang der Erzählung ist das Werk Poes, das dieser unter Anleitung des eigentlichen Abenteurers zu Papier gebracht haben soll. Dieser Kniff wird notwendig, weil man zu dem Zeitpunkt bereits Gelegenheit hatte, Teile der Geschichte von Arthur Gordon Pym zu lesen. Die ersten Kapitel des späteren Texts erscheinen bereits ein Jahr zuvor im Southern Literary Messenger, für den Poe zu dieser Zeit als Redakteur arbeitet. Hier wird der Text noch nicht als Bericht Pyms geführt, sondern als „the first number of Arthur Gordon Pym, a sea story“2.

Während der Veröffentlichung verliert Poe allerdings seinen Posten und die Erzählung endet mitten in der Beschreibung einer Meuterei. In Pyms Vorwort zur Buchausgabe muss dieser Vorfall also erklärt werden. Pym, so heißt es, habe an seiner eigenen Fähigkeit als Schriftsteller gezweifelt und befürchtet, die Begebenheiten seiner Seefahrten würden als zu unglaublich abgetan, als dass sie in Form eines Tatsachenberichtes veröffentlich werden könnten. Doch getrieben vom Drang, seine Erlebnisse zu erzählen, veröffentlicht er Teile seiner Erzählung, von Poe ausgeschmückt und „under the garb of fiction“3, im Southern Literary Messenger. Erst die vielen Zuschriften von Lesern, welche eine im Kern faktuale Geschichte vermuten, bringen ihn dazu, selbst als Autor tätig zu werden und seine Erzählung als Bericht zu veröffentlichen.

Vier Abenteuer und (k)ein Ende

Wie für das Abenteuerformat typisch, wird die Erzählung nicht von einer thematischen Einheit zusammengehalten, sondern stellt sich als serielle Abfolge mehrerer ineinander verschalteter Episoden dar.4 Poe orientiert sich hier zentral an Benjamin Morrells Narrative of Four Voyages von 1832, von dem er Passagen teilweise wörtlich übernimmt.5 Und tatsächlich lassen sich die Erzählungen in Poe, wie bei Morrell, in vier Fahrten unterteilen, die mit vier Typen von (Seefahrts-)Abenteuern korrespondieren. Am Anfang der Erzählung steht das Jugendabenteuer der heimlichen Seefahrt Pyms und seines Freundes Augustus. Nach einer Feier entscheiden die beiden, mit Augustus‘ kleinem Boot (der Ariel) in See zu stechen. Das Abenteuer selbst, die nächtliche Fahrt hinaus aufs Meer, ist dabei Selbstzweck. Denn auf Pyms Frage nach ihrem Ziel entgegnet Augustus nur: „I am going to sea“.Das Abenteuer wird hier um seinetwillen gesucht und stellt so den aktiven Wunsch nach einem Ausnahmeereignis dar.7 In einen Sturm geraten und vom Alkohol schließlich außer Gefecht gesetzt, ertrinken die beiden beinahe, als ihr Boot vom Walfänger Penguin erfasst und unter den Kiel des Schiffes gedrückt wird. In letzter Minute von dessen Besatzung gerettet, erreichen sie allerdings noch vor Morgengrauen Nantucket. Im erstaunlichen Ende dieser Episode kündigt sich bereits die hohe Widerstandsfähigkeit des Abenteuerhelden an. Obwohl er an Bord der Penguin lange Zeit bewusstlos ist, erfahren wir später, dass Pyms Wunden nur oberflächlicher Natur sind und die Nahtoderfahrung bei dem Sechzehnjährigen offenbar so wenig Spuren hinterlässt, dass die Familie beim morgendlichen Frühstück nichts von der Fahrt und ihrem beinahe tragischen Ausgang ahnt. Die Fahrt mit der Ariel bildet so einen Idealtypus der Abenteuerepisode ab – autoteleologisch8 und mit einen Abenteuersubjekt im Zentrum, das erstaunlich resilient ist. Dementsprechend dämpft diese Nahtoderfahrung keineswegs Pyms Wunsch nach Abenteuer, sondern heizt ihn nahezu an. Bemerkenswerterweise sind seine Abenteuerphantasien dabei ausschließlich negativer Natur: „My visions were of shipwreck and famine; of death or captivity among barbarian hordes; of a lifetime dragged out in sorrow and tears, upon some gray and desolate rock, in an ocean unapproachable and unknown”.9 Diese Visionen werden sich im weiteren Verlauf der Erzählung als prophetisch herausstellen, denn Pym gibt schließlich dem „desire of travel“10 nach und versteckt sich mit Augustus‘ Hilfe auf dem Walfänger Grampus. Nach einer Meuterei und der erfolgreichen Rückeroberung des Schiffes mithilfe des Seefahrers Dirk Peters erleben die übriggebliebenen Besatzungsmitglieder nun tatsächlich „shipwreck and famine“, als die Grampus in einem Sturm beschädigt wird und auf dem teilweise gefluteten Schiff die Lebensmittel knapp werden. Diese zweite Abenteuerepisode gipfelt in einem Sturm und einer dramatischen Kannibalismus-Szene. Sie nimmt so zentrale Topoi des Seeabenteuers auf und nähert sich am stärksten der sea story an, als die der Southern Literary Messenger Poes Text klassifiziert.

Als die Grampus kentert und in diesem Zustand schließlich den Äquator überquert, wendet sich auch das Geschick Pyms und Peters‘, der nunmehr einzigen Überlebenden. Mit dieser Zäsur beginnt eine neue Episode: Die beiden werden von der Jane Guy aufgelesen, die zwar als Robbenfänger ausgelaufen ist, deren Fahrt aber viel eher einem Entdeckungs- und Kartographierungsabenteuer nach dem Vorbild von James Cooks Reiseberichten gleicht. Diese Episode ist mit drei Kapiteln die kürzeste des Romans und setzt mit den Ausführungen zu den jeweiligen Zielen starke Faktualitätssignale – die meisten Angaben, von denen zu den Kerguelen-Inseln im Pazifik bis hin zu denjenigen bezüglich Tristan da Cunha im Atlantik, lassen sich bestätigen. Erst als die Besatzung zu einer (letztlich glücklosen) Suche nach den mythischen Aurora-Inseln aufbricht, kündigt sich die fantastische Wendung der nächsten Abenteuerepisode an.

Direkt im Anschluss an diese erfolglose Suche beginnt die Antarktisfahrt Pyms. Der Raum, in den er dabei vordringt, unterscheidet sich dabei vom bisherigen Raum der sea story, der sowohl kartographisch als auch literarisch erschlossen ist. Als Poe 1836, kurz vor Beginn der Arbeit an Arthur Gordon Pym, im Southern Literary Messenger eine Neuauflage von Defoes Robinson Crusoe rezensiert, klagt er:

Wo, henceforward, to the Defoe who shall prate to us of “undiscovered bournes.” There is positively not a square inch of new ground for any future Selkirk. Neither in the Indian, in the Pacific, nor in the Atlantic, has he a shadow of hope.11

Während also Defoe noch eine unentdeckte Insel zum Schauplatz von Crusoes Abenteuern macht, bieten die Weltmeere „not a square inch“ an unentdecktem Terrain für einen zukünftigen Abenteurer. Tatsächlich wurden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die meisten verbliebenen weißen Flecken auf den Karten ausgefüllt. Die Antarktis bildet dabei noch eine letzte Ausnahme, einen im Sinne von Deleuze und Guattari glatten, ungekerbten, Raum – also Raum, der noch nicht durch materielle und symbolische Praktiken repräsentiert und damit erschlossen wurde.12

Als 1836 die United States Exploring Expedition, auch Wilkes Expedition genannt, angekündigt wird, drohen diese letzten Leerstellen gefüllt zu werden. Die Wilkes Expedition wird von 1838 bis 1842 fast 300 Inseln kartographieren und dabei auch Teile der Küste der Antarktis abfahren. Vor diesem Hintergrund ist der Übergang in die Antarktisepisode, die den Schwerpunkt der Erzählung darstellen wird, ein Versuch, sowohl dieser Kerbung zuvorzukommen als auch von der beträchtlichen medialen Aufmerksamkeit, die sich auf die Expedition richtet, zu profitieren. Die Rolle Pyms als Pionier wird dadurch akzentuiert, dass seine Bewegung im antarktischen Raum als Meta-Bewegungen (also als Kartographierungsbewegungen, die zukünftige Bewegung erleichtern sollen) inszeniert werden: Gleich einem Logbuch, dem zentralen Instrument der maritimen Kerbung13, werden die Einträge in Pyms Tagebuch mit exakten Breiten- und Längengraden versehen.

Wenn die grenzüberschreitende Bewegung im Raum als eines der zentralen Charakteristika der Abenteuerreise gelten kann14, so ist diese Bedingung hier besonders deutlich erfüllt. Im übertragenen Sinne lassen sich zwar auch die vorherigen Abenteuerepisoden Pyms als transgressive Momente beschreiben, doch nirgendwo wird die Raumgrenze so deutlich markiert wie im Laufe der Antarktisfahrt, in deren späteren Verlauf eine der antarktischen Konvergenz15 ähnliche Schwelle passiert wird. Anstatt dass die Wassertemperatur aber nun rapide abfällt, wie es der Fall sein müsste, beschreibt Pym das genaue Gegenteil: eine paradoxe und plötzliche Zunahme der Wasser- und Lufttemperatur, die dadurch eine umso deutlichere Zäsur setzt. Die Antarktisfahrt ist auch die Episode, in der für spätere Leser*innen eindeutig die Grenze zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt ist. Der Übertritt in den glatten Raum der Antarktis beginnt zunächst mit Pyms Aufzählung aller vorherigen Kerbungsversuche. Dabei werden – faktisch korrekt – einige Expeditionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts genannt, die sich mehr oder weniger erfolgreich an den neuen Kontinent angenähert haben.16 Als die Jane Guy bei 78,5° südlicher Breite jedoch noch immer auf dem Meer fährt, also einem Breitengrad von dem man schon bald wissen wird, dass er sich auf dem antarktischen Kontinent befindet, wird schließlich auch die Grenze ins Fantastische überschritten. Bald darauf beginnt die Besatzung zunehmend eigentümliche Phänomene zu beobachten: Sie treffen nicht nur auf einen riesenhaften arktischen (!) Bären, sondern finden auch ein wieselähnliches Tier mit korallenhaften Krallen. Die rätselhafte Fauna tritt schnell in den Hintergrund, als die Jane Guy auf eine bewohnte Insel stößt. Die Eingeborenen, deren Körper bis hin zu den Zähnen als „jet black“17 beschrieben werden, leben in einfachsten Behausungen und werden offenbar von der technischen Überlegenheit der Seefahrer in tiefe Ehrfurcht versetzt. Die scheinbare Naivität der Einwohner von Tsalal stellt sich als trügerisch heraus, als sie schließlich die Mannschaft der Jane Guy überfallen, wobei alle bis auf Pym und Dirk Peters ums Leben kommen. Nach einer Flucht durch eine Reihe von Höhlensystemen schaffen es diese aber mittels eines gestohlenen Kanus und eines Eingeborenen als Geisel von der Insel zu fliehen.

Im Gegensatz zu den vorherigen Abenteuerepisoden werden diese Geschehnisse durch die Bewegung auf ein klares Ziel hin in Gang gesetzt. Der Südpol steht deutlich als Begehrenshorizont über der letzten Fahrt der Jane Guy. Denn als der Kapitän des Schiffes mehrmals kurz davor steht die Reise abzubrechen, ist es immer wieder Pym, der ihn dazu drängt, Gefahren außer Acht zu lassen und das Vorhaben weiter zu verfolgen. Die Zielgerichtetheit dieser letzten Episode setzt sie nun auch deutlich von den früheren Kartographierungsfahrten der Jane Guy ab. Ab dem Zeitpunkt, ab dem Pym den Wunsch äußert an den Südpol zu gelangen, sind Veränderungen des Längengrades minimal. Die Reise des Protagonisten kann als eine fast perfekte Linie nach Süden eingezeichnet werden. Das letzte Abenteuer Arthur Gordon Pyms besitzt somit als einziges die Struktur einer Quest.

Doch mit der Flucht von Tsalal ändert sich auch Pyms Verhältnis zum Objekt dieser Quest. Während er zuvor den Kapitän noch zur Weiterfahrt drängen musste, scheint er jetzt vielmehr einem Fatalismus verfallen. Wenn es ein weiteres zentrales Charakteristikum des Abenteuers ist, dass Kontingenz in Providenz umschlägt,18 so ist dieser Wendepunkt mit dem Verlassen von Tsalal erreicht. Denn das Vordringen „still farther south“19, wie es im Untertitel heißt, stellt sich nicht länger als Problem, sondern vielmehr als Automatismus dar: Strömung und Wind treiben das kleine Boot unweigerlich weiter nach Süden. Pym gibt zu: „it would seem reasonable that we should experience some alarm at the turn events were taking – but we felt none”20. Wie schon auf den letzten Seiten von Poes MS. Found in a Bottle (1833), macht die Angst einer Schicksalsergebenheit Platz. Auch Pym strebt „onwards to some exciting knowledge – some never-to-be-imparted secret, whose attainment is destruction”21. Diese Auflösung des Subjekts kündigt sich im Verschwinden der ersten Person Singular an, die in den letzten Absätzen der Erzählung vollständig vom „we“22 der Bootsbesatzung abgelöst wird. Anders als in der sea story wird diese Kollektivität jedoch nicht durch gemeinsame Arbeit auf dem Chronotopos Schiff gestiftet23, sondern bildet sich als Schicksalsgemeinschaft. Denn von hier aus strebt dieses erzählende „we“ automatisch und unaufhaltsam der Selbstauflösung zu, bis es im bekannten Schluss in einer narrativen Desintegration gipfelt, als der Bericht Pyms schließlich mit der Beschreibung einer mysteriösen weißen Figur und Pyms scheinbarem Verschwinden in einem Strudel ein jähes Ende findet.

Resilienz und Serialität

Die so skizzierte Struktur lässt eine Abfolge von Abenteuern sichtbar werden. Diese erstreckt sich vom autoteleologischen Jugendabenteuer auf der Ariel, zur sea story auf der Grampus, der Kartographierungsfahrt mit der Jane Guy und schließlich zur mystischen Quest am Ende des Romans. Das Untertauchen Pyms und Peters‘ im Strudel unterbricht diese Reihe, lenkt aber auch Aufmerksamkeit darauf, dass Pym im Laufe der Erzählung bereits einige Male begraben wurde. Als die Ariel zu Beginn der Erzählung unter den Bug der viel größeren Penguin gedrückt wird, finden wir die erste dieser Szenen. Sie wiederholt sich, als etwa Pym sein beengtes Versteck an Bord der Grampus als „entomb[ment]“ und „premature interment“24 erfährt, oder als sich Peters und Pym auf Tsalal, „buried by the fall of the hill”25, lebendig begraben wähnen. Diese Szenen zeugen nicht nur von Poes Interesse an dem Topos des vorzeitigen Begräbnisses (dem er später u.a. in The Premature Burial (1844) nachgeht), sondern auch von einem bisher unbeachteten Strukturprinzip des Texts, der sich nun als eine iterative Abfolge von Szenen des Todes und der Wiedergeburt lesen lässt.26 Diese Szenen fügen sich in eine Reihe von Grenzerfahrungen ein, die durch zunehmend superlative Affektzustände beschrieben werden, etwa als „intense agony“, „most gloomy imaginings“, „horrible extremity“, „most abject and pitiable terror“, oder „most intense agony and despair“.27

Doch genau wie auf die Szenen von Verschüttung und Tod jene von Auftauchen und Wiedergeburt folgen, so ist all diesen Extremzuständen gemein, dass ihre Konsequenzen im Laufe der Erzählung wieder vollständig zurückgenommen werden können und der Abenteurer unbeschadet aus ihnen hervorgeht. Die Erfahrung des Kannibalismus beschreibt Pym zunächst als „scene which, with its minutest details, no after events have been able to efface in the slightest degree from my memory, and whose stern recollection will imbitter every future moment of my existence”28. Doch kaum von der Jane Guy gerettet, scheinen diese dramatischen Eindrücke verflogen:

I now feel it impossible to realize the full extent of the misery which I endured during the days spent upon the hulk. The incidents are remembered, but not the feelings which the incidents elicited at the time of their occurrence.29

Die Resilienz des Abenteurerkörpers, von der wir beim Lesen schon in der nächtlichen Ausfahrt mit der Ariel beeindruckt sind, scheint auch für den Affekthaushalt Pyms zu gelten, der unter den Eindrücken von intensivsten Grenzerfahrungen mit beeindruckender Elastizität wieder in den vorherigen Zustand zurückschnellt.

Mystery und Mystification

Die Wiederholung solcher Szenen verstärkt den Eindruck der Serialität, die so den gesamten Text prägt. Diese serielle Struktur und relative Autonomie der Abenteuerepisoden setzt damit eine konstitutive Endlosigkeit ins Werk30, bei der theoretisch immer noch eine weitere Abenteuerepisode nachgeschaltet werden kann. Das offene Ende – wir wissen weder, was Pym noch zugestoßen ist, noch wie er schließlich in seine Heimat zurückkehrt – garantiert diese Modularität. Es verwundert also nicht, dass im Anschluss zahlreiche literarische Fortsetzungen und Adaptionen entstehen. Die bekannteste davon findet sich wohl bei Jules Verne, der 1887 in Le Spinx de Glaces die Geschichte Pyms fortschreibt, ihre paranormalen Elemente allerdings (pseudo- )wissenschaftlich exorziert: Die Sphinx stellt sich am Ende als riesiger Magnet heraus, der für viele der unerklärlichen Phänomene verantwortlich gemacht wird. Wenige Jahre später wählt Charles R. Dake in A Strange Discovery (1899) einen anderen Lösungsansatz für Pyms rätselhafte Erzählung. Der Erzähler trifft hier einen Arzt, der behauptet, den gealterten Dirk Peters zum Patienten zu haben. Durch diesen Arzt füllt der Erzähler die Leerstellen in Pyms Erzählung, die somit allerdings zunehmend fantastischer und unglaubwürdiger wird. Am Ende wird suggeriert, dass der mitunter als äußerst naiv charakterisierte Erzähler lediglich auf den Arm genommen wird. Ernster geht es in H.P. Lovecrafts At the Mountains of Madness von 1931 zu, in dem The Narrative of Arthur Gordon Pym als literarischer Beweis für den Cthulhu- Mythos bürgt. Auf dem dramatischen Höhepunkt der Erzählung, als eine Antarktisexpedition Opfer extraterrestrischer Monster wird, wiederholen die formlosen Shoggoth das ‚tekeli-li‘, den Taboo-Ruf der Einheimischen von Tsalal.

Im Vergleich dazu ist das Echo, das Poes Roman in Thomas Pynchons V. findet, vergleichsweise subtil. Eine der zahlreichen Nebenfiguren, Godolphin, von Hanjo Berrensem auch als „Good old Pym“31 gelesen, befindet sich auf der Suche nach V., einem verschwundenen Kontinent, und findet in der Antarktis ein eigentümliches Affenwesen vor, dass an die Fauna von Poes Tsalal erinnert. Das titelgebende V. wird von verschiedenen Figuren wahlweise als eine Person, ein Kontinent, eine Verschwörung oder etwas ganz anderes verstanden. An die Stelle von Pyms Enigma setzt Pynchon eine unendlich produktive Reihe neuer Rätsel, die aus einem steten Überschuss an Bedeutungsangeboten resultieren.

Trotz der marginalen Rolle, die der Verweis auf The Narrative of Arthur Gordon Pym in V. einnimmt, kommt Pynchon hier Poes Methode am nächsten. Denn Poes Text ist eine note beigefügt, in der eine dritte Erzählstimme, weder die Poes noch Pyms, das unvermittelte Ende des Texts kontextualisiert. Der plötzliche Unfalltod des in die USA zurückgekehrten Pym ließe den Text abbrechen, dem lediglich noch „two or three final chapters“32, ebenfalls bei dem Unfall verloren, fehlen würden. Gerade von diesen letzten Kapiteln würde sich die Erzählstimme Aufklärung über einige Beobachtungen versprechen, die in der note dargelegt werden. Beispielsweise werden die Formen der Höhlensysteme, die Pym zwar aufs genaueste abzeichnet, jedoch nicht weiter kommentiert, als bedeutungsvoll erkannt. Aneinandergereiht ergeben sie Formen, die mit dem äthiopischen Wortstamm für „[t]o be shady“33 identisch wären. Auch die Einkerbungen, die Pym in der Höhle in Tsalal abzeichnet, letztlich jedoch für die Resultate zufällig abgesplitterter Steinfragmente hält, werden von der Erzählerstimme der note als Schriftzeichen gedeutet. Die erste Reihe würde so „the Arabic verbal root […] ‚To be white‘“34 ergeben, während in der zweiten Reihe das „full egyptian word“ für „[t]he region of the south“35 zu lesen wäre.

Poes Vorliebe für den Hoax legt hier zumindest die Vermutung nahe, dass es sich bei diesen Schriftzeichen um Fabrikationen handelt. Folgt man jedoch den Aufforderungen der Erzählstimme und lässt „minute philological scrutiny“36 walten, kommt man zu dem Schluss, dass die äthiopischen (genauer: amharischen) Grapheme „ጸሎ:“ tatsächlich existieren und annäherungsweise als /tsə‘lma⁠/ realisiert werden. Mehr noch, es lässt sich ebenfalls überprüfen, dass die Zeichen, und damit der Name der Insel, mit dem Ausdruck „[t]o be shady“ zusammenfällt.37 Ähnliches gilt für die Einkerbungen, deren erste Reihe tatsächlich einen arabischen Wortstamm ergibt, der auf weiße Farbe verweist.38 Schließlich findet sich im dritten Ausdruck die koptische Variante des alt-ägyptischen Wortes für „p3-t3-rsy, meaning literally ‚the (p3) land (t3) southern (rsy)‘ or ‚the region of the south,‘ as Poe has it.“39

Der Blick zurück in den Text, den die note fordert, scheint also lohnend. Diese Beobachtungen, so fordert die Erzählstimme, „should be regarded, perhaps, in connexion with some of the most faintly-detailed incidents of the narrative”, wobei sie aber einräumt: „in no visible manner is this chain of connection complete”40. Nehmen wir den Aufruf jedoch ernst und wenden die „minute philological scrutiny“ auch auf den Rest des Textes an, wo weitere Erkenntnisse versprochen werden, ergeben sich schnell Probleme. Gerade die vielen Exkurse Poes, die dem Text Faktizität bescheinigen sollen, scheinen offensichtlich falsche Informationen zu beinhalten – so etwa die Exkurse zur Schiffsladung und zur Segeltechnik des lying to.41 Aber auch Teile der eigentlichen Erzählung weisen eine Vielzahl an Widersprüchen auf. Beispielsweise zeigt die genaue Lektüre der Episode im Versteck auf der Grampus, dass Augustus den Brief, in dem er die Meuterei erklärt, auf die Rückseite eines anderen Schriftstückes schreibt. Zuvor hat Pym behauptet, er hätte den Brief zuerst nicht entziffern können, weil er nur die leere Rückseite gelesen hätte: Besagtes Schriftstück müsste also drei Seiten haben. In Kapitel X erfahren wir, dass noch „nine long years“42 an Abenteuern auf Pym warten, und noch im vorletzten Kapitel spricht Pym von einer „long series of subsequent adventures“43. Obwohl in der Zwischenzeit nur wenige Monate vergangen sind, erfährt man in der note, dass die Geschichte am Ende fast auserzählt ist und nur „two or three final chapters“44 fehlen würden. Auch die note selbst endet in einem neuen Rätsel, nämlich dem unvermittelten Satz „I have graven it within the hills, and my vengeance upon the dust within the rock"45, der in bedeutsames Kursiv gesetzt ist. Davon abgesehen, dass er ein direktes semantisches Rätsel aufgibt, suggeriert seine archaisierende Sprache und eigentümliche Syntax einen Bibelvers. Forscht man jedoch in den gängigen Bibelübersetzungen nach diesem oder ähnlichen Ausdrücken, so sucht man vergebens.

Statt einen Abschluss herzustellen, gibt die note den Lesenden also nur neue hermeneutische Herausforderungen auf. Um die Kohärenz des Textes wiederherzustellen, müssen wir selbst an der „chain of connection“ arbeiten. Der Text bietet faktuale Referenzen, die überprüft werden können, Widersprüche, die aufgelöst werden müssen, und kryptische Andeutungen, die entziffert werden wollen. Wie in den Texten Pynchons, leistet die Erzählung Poes damit einer geradezu paranoiden Leseerfahrung Vorschub, wie nicht zuletzt die Sekundärliteratur beweist: Die Fehler in den Exkursen können etwa rationalisiert werden, indem man sie als Metaphern literarischer Produktionsund Rezeptionsprozesse versteht46, Ungereimtheiten wie der dreiseitige Brief bürgen dafür, den Text als „one of the first and finest examples of an unnatural narrative in American literature“47 zu verstehen, und sogar die Typographie der Titelseite wird als bedeutsam erkannt und wahlweise als Darstellung einer Weltkugel oder eines gespiegelten Schiffes verstanden.48 Genau wie Peters und Pym, die in den Höhlen von Tsalal vor rätselhaften Einkerbungen stehen, müssen die Lesenden immer wieder die Entscheidung treffen, ob sie die Bedeutungsangebote des Textes als intentional (und damit bedeutsam) verstehen wollen, oder als Resultat kontingenter Umstände, also etwa Poes mangelnder Aufmerksamkeit bei der Komposition des Textes.

Poe schreibt seinen Roman als Antwort auf die Kritik, seine Kurzgeschichten seien zu „learned and mystical“49. Das Format der abenteuerlichen Seefahrt – dank der Wilkes Expedition populär im doppelten Wortsinn – soll dabei durch die Anleihen bei Morrell und die Faktualitätssignale der Exkurse vom Vorwurf des Mystizismus freisprechen und den kommerziellen Erfolg des Textes sicherstellen. Die Verbindung von Poes Erzählmethode mit dem Abenteuerformat resultiert aber nicht einfach in einer Abenteuererzählung, die mit den unerklärlichen Elementen der Antarktisfahrt angereichert wird, die für Poes Genre der mystery story charakteristisch sind. Stattdessen entsteht ein Text, der die konstitutive Endlosigkeit des seriellen Abenteuertextes auf die Leseerfahrung selbst zurückprojiziert. Genauso wie die Erzählung Pyms offenbleibt, stets noch eine weitere Abenteuerepisode hinzugefügt werden könnte, so ist auch die Leseerfahrung selbst rekursiv, die Bedeutungsversprechen der note schicken die Lesenden stets aufs Neue in den Text zurück.50 Der Roman wird so potenziell unendlich produktiv, ist darum aber auch nie in einen abgeschlossenen Sinnzusammenhang zu bringen. The Narrative of Arthur Gordon Pym bietet also weniger mystery, und eher – in Anlehnung an den Titel einer kurz vorher erschienenen Kurzgeschichte Poes – Mystification (1837).

 

 

Endnoten 

[1] James Hutchisson: „Poe, Hoaxing, and the ‘Digressions’ in ‘Arthur Gordon Pym’”. In: CEA Critic 58:2 (1996), S. 24-34, hier S. 25.

[2] Ebd., S. 26.

[3] Edgar Allan Poe: „The Narrative of Arthur Gordon Pym” [1833]. In: The Narrative of Arthur Gordon Pym and Related Tales. Oxford: Oxford University Press 2008, S. 1-178, hier S. 3.

[4] Robert Stockhammer: Reisen zwischen Abenteuer und Rasterung. Paderborn: Brill/Fink 2021, S. 14.

[5] J.V. Ridgely und Iola S. Haverstick: „Chartless Voyage: The Many Narratives of Arthur Gordon Pym“. In: Texas Studies in Literature and Language 8.1. (1966), S. 63-80, hier S. 73.

[6] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 6.

[7] Vgl. Manuel Mühlbacher und Martin von Koppenfels: „Einleitung“. In: Abenteuer Erzählmuster, Formprinzip, Genre. Hg. v. Martin von Koppenfels und Manuel Mühlbacher. Paderborn: Brill/Fink 2018, S. 1-16, hier S. 5.

[8] Vgl. Stockhammer: Reisen zwischen Abenteuer und Rasterung, S. 21.

[9] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 13.

[10] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 14.

[11] Poe: „Review of The Life of Robinson Crusoe” [1836]. In: The Complete Works of Edgar Allan Poe: Vol. VIII. Hg. v. J. A. Harrison, New York: Fred DeFau & Co. 1902, S. 169-173, hier S. 169.

[12] Stockhammer: Reisen zwischen Abenteuer und Rasterung, S. 30f.

[13] Ebd., S. 41.

[14] Ebd., S. 4.

[15] Der Stelle, an der das nach Norden fließende Oberflächenwasser der Antarktis auf das wärmere Oberflächenwasser aus nördlicher Richtung trifft. An dieser Stelle sinkt die Wassertemperatur abrupt von 8° auf unter 2° ab.

[16] Interessanterweise wird die russische Expedition unter Fabian von Bellingshausen ausgelassen, die 1820 als erste tatsächlich den antarktischen Kontinent sichtete.

[17] Poe: „Arthur Gordon Pym“, S. 131.

[18] Vgl. Mühlbacher und von Koppenfels: „Einleitung”, S. 9.

[19] Poe: „Arthur Gordon Pym“, S. 1. D.h. südlicher als bis zum im Untertitel erwähnten 84. Breitengrad. Die letzte Breite, die Pym selbst angibt, ist 83°20‘. Sie wird am 19. Januar erreicht, dem Tag, an dem die Besatzung der Jane Guy auf Tsalal landet.

[20] Poe: „Arthur Gordon Pym“, S. 173.

[21] Edgar Allan Poe: „MS. Found in a Bottle” [1833]. In: The narrative of Arthur Gordon Pym and Related Tales. Oxford: Oxford University Press 2008, S. 179-189, hier S. 188.

[22] Poe: „Arthur Gordon Pym“, S. 170ff.

[23] Vgl. z.B. Bonnie Honig: „Charged: Debt, Power, and the Politics of the Flesh in Shakespeare’s Merchant, Melville’s Moby-Dick, and Eric Santner’s The Weight of All Flesh”. In: Eric Santner: The Weight of All Flesh. Hg. v. Kevis Goodman, Oxford: Oxford University Press 2016, S. 151f.

[24] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 25.

[25] Ebd., S. 164

[26] Grace Farell Lee: „The Quest of Arthur Gordon Pym”. In: The Southern Literary Journal 4:2 (1972), S. 22-33, hier S. 23.

[27] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 8, 25, 90, 93, 148.

[28] Ebd., S. 93.

[29] Ebd., S. 100.

[30] Vgl. Mühlbacher und von Koppenfels: „Einleitung“, S. 11.

[31] Hanjo Berrensem: „Godolphin – Goodolphin – Goodol’pin – Goodol’Pyn – Good ol‘ Pym: A Question of Integration.” In: Pynchon Notes 10 (1982), S. 3-17.

[32] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 176.

[33] Ebd., S. 177.

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36] Ebd., S. 178.

[37] John T. Irwin: American Hieroglyphics: The Symbol of the Egyptian Hieroglyphics in the American Renaissance. New Haven und London: Yale University Press 1980, S. 199.

[38] Irwin: American Hieroglyphics, S. 199.

[39] Ebd.

[40] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 178.

[41] Hutchisson: „Poe, Hoaxing, and the ‘Digressions’ in ‘Arthur Gordon Pym’”, S. 28-30.

[42] Poe: „Arthur Gordon Pym”, S. 79.

[43] Ebd., S. 160.

[44] Ebd., S. 176.

[45] Ebd., S. 178.

[46] Hutchisson: „Poe, Hoaxing, and the ‘Digressions’ in ‘Arthur Gordon Pym’”, S. 28-30.

[47] Mitchell C. Lilly: Impossible Storyworlds and The (Unnatural) Narrative of Arthur Gordon Pym. Theses, Dissertations and Capstones. Paper 476. Huntington: Marshall Digital Scholar 2013, S. 12.

[48] John Tresch: „The Compositor’s Reversal: Typography, Science and Creation in Poe’s Narrative of Arthur Gordon Pym”. In: History and Theory. Theme Issue 56 (2018), S. 8-31, hier S. 23.

[49] Hutchisson: „Poe, Hoaxing, and the ‘Digressions’ in ‚Arthur Gordon Pym’”, S. 25.

[50] Irwin: American Hieroglyphics, S. 196-197.