Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Typee

Essay von Robert Stockhammer: „Abenteuer ‘heutzutage‘: Herman Melville, Typee

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Typee: A Peep at Polynesian Life. During a Four Months’ Residence in A Valley of the Marquesas with Notices of the French Occupation of Tahiti and the Provisional Cession of the Sandwich Islands to Lord Paulet – im März 1846 unter diesem Titel in der USamerikanischen Erstausgabe publiziert, nachdem im Februar des gleichen Jahres bereits eine britische Ausgabe unter einem etwas kürzeren Titel erschienen war – war, mehr noch als seine im Folgejahr gedruckte Fortsetzung Omoo, zu Herman Melvilles Lebzeiten dessen erfolgreichstes Buch. (Der 1851 erschienene Roman Moby-Dick hingegen wurde erst lange nach Melvilles Tod für die Literaturgeschichte entdeckt).

Typee ist ein faktualer Reisebericht. Damit sei wohlverstanden nicht behauptet, es habe sich alles tatsächlich so zugetragen, wie es dort berichtet wird, sondern nur (aber eben immerhin), dass er beansprucht, es habe sich alles tatsächlich so zugetragen, wie es dort berichtet wird. Der Text stellt sich in die Tradition der faktualen Reiseberichte wie etwa denjenigen von James Cooks Reisen – um auf einen Bezugspunkt zu verweisen, der hier, ebenso wie später in Omoo, nicht nur aufgrund des gemeinsamen pazifischen Schauplatzes leitmotivisch genannt wird. Gegenüber dem typischen Bericht von einer wissenschaftlichen Entdeckungsreise des Cook-Modells, der das abenteuerliche Moment teils neutralisiert, teils von sich abspaltet, weicht derjenige Melvilles jedoch darin ab, die Abenteuerlichkeit der Reise zu betonen – freilich eben einer, für welche es konstitutiv ist, dass das Abenteuer tatsächlich stattgefunden habe. Jack London, der sich nach eigener Aussage von Typee dazu inspirieren ließ, eine eigene Südsee-Reise zu unternehmen, wird von seinem fiktiven Schriftstellerkollegen, dem Titelhelden seines Romans Martin Eden, schreiben: „He had entitled the story ‚Adventure‘, and it was the apotheosis of adventure – not of the adventure of the storybooks, but of real adventure“1. Melville wie London müssen eine doppelte Abgrenzung vollziehen, die sich wie folgt umschreiben ließe: ‚In Berichten von wissenschaftlichen Entdeckungsreisen gibt es keine Abenteuer mehr, in der fiktionalen Abenteuerliteratur sind sie erfunden – nur hier gibt es noch wirklich welche.‘

Typee enthält 22 Belege für das Wortfeld adventur*, einschließlich Plural und Adjektiv, mit einem markanten Übergewicht am Anfang: allein sechs finden sich im Preface sowie im ersten von 34 Kapiteln, und davon wiederum gleich drei im allerersten Absatz des Preface. Eine Analyse dieses Wortgebrauchs führt für diesen Text so wenig wie für irgendeinen anderen hier behandelten zu einer kontextfrei definitorisch verwendbaren Nomenklatur – so wird etwa ein und dieselbe eingeschaltete Begebenheit im Resümee des ersten Kapitels als „adventure“ (11)2, in der durchgeführten Erzählung hingegen als „incident“ (14) bezeichnet. Immerhin jedoch ist die Verwendung des Wortes nicht beliebig. In den ersten beiden Fällen wird das Wort im Kollektivsingular mit den Adjektiven „stirring“ und „curious“ versehen und damit von den ökonomischen Konnotationen entkoppelt, welche es vor allem im Englischen in den Jahrhunderten zuvor angenommen hatte – ohne dass es übrigens jemals ganz darauf reduziert worden wäre –, und denen des ‚Abenteuers um seiner selbst willen‘ angenähert. Nicht eben konsistent damit erscheint, dass Melville es zugleich einer Berufsklasse zuordnet: „Sailors are the only class of men who now-a-days see anything like stirring adventure." (9) Einerseits ist dies ein Widerspruch gegen die Diagnose, es gebe oder gäbe gar keine Abenteuer mehr – „Die Zeit ist vorüber, wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir ungefähr wissen, was zu erwarten sei“3, heißt es in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre –, ein Widerspruch, der diese Diagnose selbst mitaufruft, insofern das „now-a-days“ als apotropäisches ‚noch‘ zu verstehen ist, ganz wie heute im Motto der Zeitschrift Free Men’s World: „Abenteuer gibt es noch“. Eingeräumt wird dabei andererseits auch, dass es ein solches nur ‚noch‘ unter ganz bestimmten Bedingungen gebe – diese jedoch sollen nach Melville ausgerechnet in einem Arbeitsumfeld gelten, welches, in Gestalt von Unternehmungen wie dem Walfang, durchaus ökonomischen Zielen dient.

Das erste Kapitel scheint zunächst in einem krassen Missverhältnis zu dieser Aussage zu stehen, insofern dort gerade die entsetzliche Langeweile einer Schifffahrt beschrieben wird, gar einer auf dem Pazifik, und gar auf einem Walfangschiff, das sehr selten Häfen ansteuert: „Six Months at Sea!“ (11) Doch wird die Vertrautheit der Seeleute mit Abenteuern („the familiarity of sailors with all sorts of curious adventures“, 9) im Preface nur im ersten Schritt darüber plausibilisiert, dass sie solche selbst erlebten, im Folgenden vielmehr darüber, dass sie einander solche erzählten.Die niedergeschriebenen Geschehnisse („the incidents recorded“, 9) sollen ihrerseits schon als „yarn“, als Seemannsgarn, gedient haben, womit adventure als Ereignistyp in adventure als Erzählschema übergeht: Als bereits erzählte vertreiben Abenteuer die Langeweile („relieve the weariness“, 9) des Alltags an Bord. Dass diese Beschreibung nicht sonderlich gut zum Faktualitätsanspruch des Textes passt, sei en passant notiert.

Jedenfalls erklärt sich damit der vermeintliche Widerspruch, dass Melville im Preface einerseits Abenteuer mit der ganzen Klasse der Seeleute assoziiert, andererseits gerade seine Individualreise als abenteuerliche charakterisiert. Denn gerade dass der Erzähler das Schiff heimlich („clandestinely“, V. 42) verlässt und damit eine vertraglich vereinbarte Kollektivreise in eine Individualreise umfunktioniert, ist der erste konkrete Akt, den er adventure nennt (V. 42, schon im Inhaltsverzeichnis des Kapitels, dann nochmal 45). Er überschreitet damit eine Grenze nicht mit dem Schiff, auch nicht einfach die des Schiffes selbst, denn den Landurlaub hat der Kapitän, wenngleich widerstrebend (vgl. VI. 47), erteilt –, sondern vielmehr eine Grenze der Schiffsgemeinschaft, und zwar mit einen illegitimen Akt, der eine schwere Strafe nach sich ziehen müsste, wenn er entdeckt würde. Zwar begründet er die Flucht damit, dass schon der Kapitän des Schiffes seine vertraglichen Pflichten verletzt und damit unerträgliche Bedingungen an Bord geschaffen habe (vgl. IV. 30f). Doch würde diese Ausrede, wonach sich sein eigener Vertragsbruch komplementär zu demjenigen des Kapitäns verhalte, vor einem Seegericht schwerlich zu seinem Freispruch führen.

Weil der Erzähler und Toby, der sich ihm anschließt, keinesfalls entdeckt werden dürfen, bevor das Schiff seine Reise wiederaufnimmt, würde beider Handlung auch dann ein ‚Abenteuer‘ bilden, wenn sie sich – zugespitzt formuliert – in den Gassen von Cuxhaven verdrückten. Die spezifischen Bedingungen auf der Marquesas-Insel Nukuheva (heute: Nuku Hiva), auf welcher Typee überwiegend spielt, machen allerdings eine zweite Grenzüberschreitung notwendig: diejenige von dem Hafenort in das von einem Gebirgszug verborgene und von Europäern noch kaum erschlossene Hinterland. Dieses wiederum erscheint einerseits aufgrund seiner geologischen und botanischen Bedingungen abweisend, so dass drei Kapitel (VII-IX) den Anteil von Klettereien und extremem Nahrungsmangel an diesem „adventure“ (VII. 57) behandeln. Die zu überwindenden Hindernisse – Gestrüppe, Wasserfälle, Klippen – folgen einander in einer kaum strukturierbaren, kaum abschließbaren Reihe. Andererseits wird die Insel einer binären Struktur unterworfen, insofern die Ausreißer zu wissen glauben, sie sei in die Gebiete der untereinander verfeindeten Gruppen der Happar und der Typee geteilt, von denen die ersteren ‚gut‘ und gastfreundlich, die letzteren hingegen ‚böse‘, nämlich Kannibalen seien. Nur können sich die Flüchtenden, als sie von einer Anhöhe über das Hinterland der Insel blicken, nicht darüber einig werden, in welcher Richtung welche der beiden Hemisphären liegt: „The question now was as to which of those two places we were looking down upon. Toby insisted that it was the abode of the Happars, and I that it was tenanted by their enemies the ferocious Typees.” (VIII. 66) Letztlich ist dies ohnehin egal, weil die Dichotomie bereits zuvor nicht nur entfaltet, sondern auch schon dekonstruiert worden war: Ist doch das Wort Typee ein pars pro toto für „a lover of human flesh“ (IV. 35), das als ein solches pars pro toto zugleich in die Irre führt, „inasmuch as the natives of all this group are irreclaimable cannibals“ (IV. 35; Herv. v. Verf.). Die Typees sind solche im Doppelsinn eines Stammesnamens und einer Speisegewohnheit; die vermeintlichen Nicht-Typees (darunter die Happars) sind jedoch im letzteren Sinne auch Typees.

Fest steht für die Protagonisten am Scheideweg nur, aber immerhin, dass sie nicht zurückgehen dürfen – und dieses Verbot wird nicht mehr damit begründet, dass sie dabei Gefahr liefen, von dem Kapitän des Schiffes entdeckt und bestraft zu werden, sondern mit einer ‚existentialen‘ Verachtung der Rückkehr überhöht: Nichts scheue „a man [...] in difficulties“ (VIII. 70) so sehr wie ein systematisches Zurücklegen des bereits betretenen Grundes („a systematic going over of the already trodden ground“, 71). Der Zusatz, dies gelte „especially if he has a love of adventure“ (71), konzipiert ihr Unterfangen nun endgültig als ‚Abenteuer um seiner selbst willen‘, das nicht mehr mit zweckrationalen Motiven wie dem Entkommen aus unangenehmen Umständen begründet werden muss oder kann. Die Abenteurer landen prompt bei den Typees, werden aber, um so viel zu verraten, nicht gegessen. Vielmehr lebt vor allem der Ich- Erzähler – Toby wird bald freigelassen, um einen Arzt für seinen Weggefährten zu holen – dort in der Folge so friedlich, dass die nun folgenden Kapitel (XI-XXXI) nur in einem eingeschränkten Sinne als ‚abenteuerlich‘ bezeichnet werden können. Auch das Wort verliert sich weitgehend. In diesem langen Abschnitt, der knapp zwei Drittel des Buches ausmacht, überwiegt stattdessen der Charakter eines ethnographischen Berichts. Der Leser lernt etwa die verschiedenen Arten der Zubereitung von Brotfrüchten (XV), die Verfertigung eines Baumwollstoffes (XIX) und die Verfahren der Tätowierung kennen (XXX). Zwar werden diese Beschreibungen skandiert von kurzen, nachgerade leitmotivisch eingesetzten Passagen über den gesundheitlichen Zustand des Ich- Erzählers und seine vergeblichen, meist freilich eher zaghaften Versuche, dem Tal zu entfliehen. Doch die meisten seiner eigenen Handlungen – etwa das häufige Baden mit dem ihm als Diener zur Verfügung gestellten Kory-Kory oder mit der wunderschönen Fayaway – werden durch die Wiederholung zu alltäglichen, die ein Leben eher beschreiben als von ihm erzählen. Ausdrücklich hält Melville nicht nur die Ereignislosigkeit des Beschriebenen fest: „Nothing can be more uniform and undiversified than the life of the Typees; one tranquil day of ease and happiness follows another in quiet succession; and with these unsophisticated savages the history of a day is the history of a life.” (XX. 178) Er ersucht den Leser auch um Verständnis für die Ereignislosigkeit seiner Beschreibung: „Sadly discursive as I have already been, I must still further entreat the reader's patience“ (XXXI. 263).

Doch ist der ethnographische Bericht nicht einfach das unverbundene Gegenteil des Abenteuerlichen. Vielmehr ist er, zum einen, dessen notwendiges Komplement. Ist ein Ereignis im mittel-emphatischen (an Jurij Lotman angelehnten) Sinne etwas, was die Grenzen einer Welt überschreitet, so muss diese Welt natürlich selbst mindestens so bekannt sein, dass der Moment und die genaue Bewegung der Überschreitung erkannt werden. Und je weniger beim Leser vorausgesetzt werden kann, dass er diese Welt schon kennt, desto umfangreicher müssen deskriptive Textelemente sein. Für die ‚Welt‘ einer pazifischen Insel können nur sehr eingeschränkte Kenntnisse vorausgesetzt werden, zumal Typee zu den frühesten Texten zählt, mit denen eine Beschreibung ‚von innen‘ erfolgt, sich also dem Modus dessen nähert, was Bronislaw Malinowski achtzig Jahre später „teilnehmende Beobachtung“ nennen wird. Zum anderen dient die ethnographische Beobachtung, wie immer dilettantisch und improvisiert sie ist, der Abwehr oder zumindest der Einschätzung der Gefahren. Zwar legt sich die Angst davor, selbst getötet – und gegessen – zu werden. Zu Beginn des Aufenthaltes hatte Toby noch „by the soul of Captain Cook!“ geschworen, dass es sich bei dem Fleisch, das den Gästen gereicht wird, nicht um dasjenige eines Kalbs, sondern eines Menschen handle (vgl. XII. 117). Zunehmend jedoch wird das Wort cannibal erst ausdrücklich mit der vermeintlichen contradictio in adiecto „humane, gentlemanly“ (XIII. 119) assoziiert, dann ironisch-spielerisch in harmlose Verbindungen gestellt (vgl. z.B. „highly respectable cannibal education“, XIV. 136). Der Kannibalismus ist bei Melville somit nicht das Radikal-Abhorreszierte, als das er aus europäischer Perspektive so häufig erscheint, sondern wird zum einen ausdrücklich relativiert (vgl. XXVII. 240f), zum anderen in die komödiantische Schicht des Berichts mitaufgenommen.

Erst als der Erzähler zu Beginn des 32. (drittletzten) Kapitels entdeckt, dass sich unter den Relikten menschlicher Körper, welche die Typees aufbewahren, auch der Kopf eines Europäers befindet, wird seine Todesangst nachvollziehbarerweise wieder ausgelöst: „Was the same doom reserved for me?“ (270) Er wird jedoch im Folgenden nur mit „Taboo! taboo!“-Warnungen vom Mitessen abgehalten, nicht selbst gegessen (276). Der hohe Affektgehalt dieser Passagen ist wohl nicht nur auf die eigene Bedrohung, sondern vor allem auch auf die theoretische Neugierde des Beobachters zurückzuführen, der – jedenfalls in der Anordnung des Berichts – zunächst einmal zu einem Exkurs über die Forschungsgeschichte des Kannibalismus ausholt und dabei eine bisher selten überschrittene epistemische Grenze markiert: „It is a singular fact, that in all our accounts of cannibal tribes we have seldom received the testimony of an eye-witness to the revolting practice.“ (271) Darum gilt es jetzt nicht nur, die eigene Haut zu retten, sondern auch, die epistemische Grenze zu überschreiten, um damit einen – mit dem Untertitel des Romans gesprochen – „Peep at Polynesian Life“ auch hinsichtlich des Kannibalismus zu erhaschen. Es gelingt: „But the slight glimpse sufficed: my eyes fell upon the disordered members of a human skeleton, the bones still fresh with moisture, and with particles of flesh clinging to them here and there!” (276) In den letzten beiden Kapiteln muss der Augenzeuge nur noch fliehen – wenn auch dies gelingt, so freilich nur, weil die Typees ihn nicht mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht zurückzuhalten versuchen.

Endnoten: 

1 Jack London: „Martin Eden”. In: Ders.: Novels and Social Writings. New York: Library of America 1982, S. 555–932, S. 670.

2 Herman Melville: Typee, Omoo, Mardi. New York: Library of America 1982. Hier wie im Folgenden zitiert durch bloße Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text. Zur besseren Auffindbarkeit der Zitate in anderen Ausgaben wird die Kapitelnummer in römischen Zahlen vorangestellt, soweit sich diese nicht ohnehin aus dem Haupttext ergibt.

3 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. v. Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann u. Johannes John. München: Hanser 1991, S. 618–619 (= Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.a. Bd. 17).