Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Mess Mend

Essay von Brigitte Obermayr: „‚Eine gewisse Dynamik’. Mess Mend oder Die Yankees in Leningrad (1924)“

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Abenteuer und Revolution?

„Der Kommunismus und der Abenteuerroman – wie soll denn das zusammenpassen?“ Diese skeptische Nachfrage musste sich die Redaktion der Tageszeitung der Deutschen Kommunistischen Partei, Die rote Fahne, Ende Oktober 1924 gefallen lassen. Gestellt wurde sie anlässlich der Ankündigung, dass ab dem 1. November ein neuer Fortsetzungsroman erscheinen würde, und zwar ein Abenteuerroman. Die deutsche Zeitung druckte sechs Monate nach dem Erscheinen des Originals die russische Heftserie Mess Mend, ili Janki v Petrograde (Mess Mend oder Die Yankees in Leningrad) in deutscher Übersetzung ab. Auf diese Veröffentlichung greift Fritz Mierau 1987 zurück und gibt Mess Mend mit Farbfaksimiles der von Aleksandr Rodčenko gestalteten Heftumschläge im Giessener Anabas Verlag heraus. Als Verfasser der Serie firmiert ein gewisser Džim Dollar, es handelt sich dabei um ein Pseudonym der Schriftstellerin Mariėtta Šaginjan (1888-1982), die sich schon 1923 mit dem Roman Abenteuer einer Dame (Priključenija damy iz obščestva) am Komplex ‚Revolution als Abenteuer‘ versucht hatte. Šaginjans Mess Mend war ein großer Erfolg, die Serie von zehn Heftromanen erschien zwischen März und April 1924 in einer Auflage von je 25-50.000 Stück im Staatsverlag („Gosudarstvennoe Izdatel’stvo“ / GIZ). In Mess Mend kämpft eine vom Arbeiter Mic Tingsmaster angeführte Untergrundbewegung gegen eine faschistische Weltverschwörung. Dieser Kampf führt von New York nach Petrograd und wird dort gewonnen. Tingsmaster und seiner Bewegung gelingt es, in einer Serie von sehr wörtlich ausagierten und realisierten ‚Enttarnungen‘ bzw. ‚Demaskierungen‘ führende Kapitalisten, allen voran einen Clan von „Rockefellers“, mit deren Hilfe sie schließlich in der Welthauptstadt der Revolution „Cice“ (offensichtlich ein Alter Ego von Benito Mussolini) überführen, für ihre Sache zu gewinnen. „Mess Mend“ ist das Losungswort der Geheimbewegung – etwas salopp könnte man es mit ‚Mist weg‘ übersetzen.

Zurück zur Skepsis bezüglich der Kompatibilität von ‚Revolution’ und ‚Abenteuer’. Die Redaktion der Roten Fahne beantwortete die Skepsis ihrer LeserInnen mit dem Hinweis darauf, dass doch „eine gewisse Dynamik nicht das Privileg der bourgeoisen Literatur sein könne.“ Und tatsächlich war es gerade eine ominöse ‚gewisse Dynamik‘, welche in der jungen Sowjetunion für relativ kurze Zeit (das engere Zeitfenster reicht wohl von etwa 1923 bis 1929) SchriftstellerInnen dazu bewog, die nach der Oktoberrevolution 1917 neu angebrochene Wirklichkeit ‚als Abenteuer‘ zu erzählen.

Im globalen Raum kursierte damals die in der Sowjetunion bereits realisierte Vision einer weltumfassenden Bewegung, die zur Befreiung des Proletariats führen werde. Solcherart losgelöst von den bislang verbindlichen und/ oder wahrscheinlichen Verlaufsgesetzen, schienen Revolution und Abenteuer in einem Verhältnis hoher Affinität zu stehen. So hat Ernst Bloch noch 1934 das „selbstbezogene“ und „revolutionäre“ Potential der ‚Kolportage‘ hervorgehoben. Neben dieser allgemeinen, eher hypothetisch-typologischen Annahme zur Verwandtschaft von Revolution und Abenteuer, kann man in der frühen Sowjetunion die konkrete Forderung nachweisen, mittels ‚Kolportagehaftem‘ die revolutionären Losungen, die bis 1928 noch einen ergebnisoffenen Verlauf annehmen durften, in attraktiven Formen zu vermitteln.

Der gesunde Mensch braucht Abenteuer

Dabei traf die Forderung nach neuen (oder besser: attraktiveren) Formen für die neuen Inhalte auf zeitgenössische Diagnosen einer Krise des Erzählens in der russischen Literatur: Jeder „gesunde Mensch“ brauche „Abenteuer, Intrige und Fabel“, wozu die russische Literatur aber bislang nicht im Stande sei, so die Stellungnahme des Schriftstellers Lev Lunc (1922), der seine Klage über die Sujetschwäche der russischen Literatur mit der Forderung nach einem „russischen Stevenson“ verband. Luncs programmatische Überlegungen scheinen von jenem Phänomen beeinflusst zu sein, das in der Forschung als „Pinkerton Craze“ bezeichnet wird. Seit 1907 überschwemmt die Heftserie über einen schlagkräftigen New Yorker Privatdetektiv namens ‚Nat Pinkerton‘ auch den russischen Buchmarkt. Bereits die Farbcover der günstigen Hefte, mit Darstellungen von Schlüsselszenen der jeweiligen Folge und einem Porträt des Meisterdetektivs, überstrahlen vieles in der Welt des Lesbaren dieser Zeit. Die kurzen, etwa 30 Seiten umfassenden Episoden um einen Privatdetektiv, der im Auftrag zahlungskräftiger Kunden (meist Unternehmer und Industrielle) der New Yorker Halb- und Unterwelt von Betrügern und Räubern das Handwerk legt, fesselten eine junge Leserschaft – vom einfachen Arbeiter bis zum jungen Sergej Ėjzenstejn.

Solchermaßen den ‚Buch‘markt und dessen ausgesprochene Neigung zum Trivialen beobachtend, äußerte Nikolaj Bucharin, damaliger Herausgeber der Parteizeitung Pravda, 1922 die Überzeugung, dass es einen „kommunistischen Pinkerton“ brauche, um die neuen Losungen ins Volk, zumal ins junge und jugendliche, zu tragen.

„Der König der Detectivs“ und das Abenteuer

Kurios ist freilich, dass der Erfolg des ‚Mister Pinkerton‘ auf dem deutschen und französischen Buchmarkt seinen Anfang nahm; die Figur wurde wohl vom Dresdner Verleger Alwin Eichler erfunden. Schon die deutschen Vorlagen tun sozusagen nur so, als stammen sie von amerikanischen Originalen ab, sie machen sich mit amerikanisierenden Sprachmasken attraktiv, in der russischen Forschung spricht man vom Verfahren der „Pseudoübersetzung“. Die deutsche Serie trägt eine solche Sprachmaske schon im Titel, der da lautet: „Nat Pinkerton. Der König der Detectivs“. Zu einem großen Teil sind die russischen Pinkerton- Folgen Übersetzungen der deutschen, auch die Cover sind einfach adaptiert.

In Mess Mend ist das Pinkerton-Schema an vielen Stellen offensichtlich: Das beginnt mit der Erscheinungsweise als Heftroman und der Erscheinungsform der Hefte. Freilich hat Rodčenko aus den Eichlerschen Farbtafeln Fotocollagen gemacht, aber bei der Zweiteilung im Layout – eine Viertelseite für den Titel mit Porträt des Titelhelden, der Rest für eine visuelle Vorschau – ist auch er Avantgardist geblieben. Ganz deutlich ist außerdem das Verfahren der Sprachmaske für Mess Mend adaptiert. Das beginnt mit dem Pseudonym Džim Dollar, setzt sich fort in der titelgebenden Losung und findet seine Entsprechung in der Tatsache, dass Tingsmaster und seine Bewegung ihren Ausgangspunkt in den USA nehmen und von dort aus Richtung Sowjetunion vordringen. Diverse Atlantiküberquerungen und Schiffbrüche liegen somit in der Natur der Sache. Wenn derlei vom Prinzip Pinkerton herrührende Motive recht greifbar sind, so ist doch nicht klar, wie es mit dem Verhältnis zwischen dem Pinkerton-Narrativ, dem ja eine Spielart des Kriminalromans zugrunde liegt, und dem für Mess Mend so explizit in Anspruch genommenen ‚Abenteuer‘ steht.

Dazu ist zunächst zu sagen, dass es sich bei der Nat Pinkerton-Serie, im Gegensatz zu den ebenso im späten Zarenreich und in der frühen Sowjetunion in hohen Auflagen präsenten Conan Doyle-Adaptionen und der Sherlock Holmes-Serie nicht um einen ‚Detektivroman‘, sondern um einen ‚abenteuerlichen Kriminalroman‘, einen ‚Thriller‘ handelt. Ist im Detektivroman etwa, der Unterscheidung bei Peter Nusser folgend, das „Denkspiel der Fahndung“ zentral, so dominiert im abenteuerlichen Kriminalroman die „handelnde Auseinandersetzung“, das „Handlungsspiel“. Ist das Verbrechen im Holmes-Schema eher ein Ausnahmeereignis, so gehört es im Pinkerton-Modus oftmals zu den Regeln der präsentierten Gesellschaft.

Der „Rätsel- und Geheimnisspannung“ im ersteren Fall steht die „Zukunftsspannung“ im letzteren gegenüber. Das Handeln („handelnde Auseinandersetzung“ vs. „Denkspiel“) ebenso wie heterodoxe Gesellschaftsordnungen (Verbrechen als Normalfall) und proleptisch perspektivierte Erwartungshaltungen können somit allesamt als Sujetkomponenten gesehen werden, die hohe Affinitäten zu einer revolutionären Dynamik aufweisen. Passt so gesehen das Pinkerton-Schema des kriminalistischen Abenteuerromans also selbst schon recht gut für die Bedürfnisse der neuen Sowjetunion, ist für Mess Mend darüber hinaus zu beobachten, dass die kriminalistischen Anteile immer mehr an sujetbildender Bedeutung verlieren. Die wörtlichen, Geheimnisspannung erzeugenden Masken (vgl. dazu den Titel des ersten Heftes „Die Maske der Rache“, in dem es ganz klare Bezüge zu der Pinkerton Folge „Die Hudsonpiraten“ gibt) fallen zunehmend ab, die Angehörigen kapitalistischer Clans outen sich mehr und mehr als Anhänger der revolutionären Bewegung. Die Notwendigkeit, Gegner der revolutionären Bewegung ‚handelnd’ – tat- und schlagkräftig – zu überführen, nimmt ‚aufgrund gewisser Dynamiken‘, die dem abenteuerlichen Zufallsprinzip näher stehen als kriminaldetektivischen Kombinierkünsten, ab; dagegen übernehmen etwa die die Erzählung vorantreibenden Motive der Atlantiküberquerungen oder des glücklichen Erscheinens des Tingsmaster-Netzwerks an allen für den Fortschritt der revolutionären Mission nötigen Stellen das Ruder. Kurz gesagt: Man gewinnt eben den Eindruck, dass die ‚kriminalistischen‘ Anteile am Abenteuer zunehmend zugunsten des Abenteuers selbst zurücktreten.

Die am Ende des zehnten Heftes verbleibende ‚Zukunftsspannung‘ betrifft zwar konkret die Fortsetzung der Serie (es gab zwei weitere ‚Staffeln‘); sie ist aber auch eine, die – freudig gespannt – den fortschreitenden Erfolg der revolutionären Bewegung, getrieben von der ‚gewissen’, nämlich abenteuerlichen Dynamik, erwarten lässt.

Tingsmaster

Es ist natürlich auffällig, dass Šaginjans Held der Arbeiterwelt, der Revolutionär, ein Meister der Dinge ist – Mic Tingsmaster genannt. Meister der Dinge heißt zunächst einfach: Handwerker. Tingsmaster arbeitet nicht am Fließband, ist aber der Archetyp jenes glücklichen Recken, der uns in der sowjetischen Literatur als Stachanov-Arbeiter präsentiert werden wird.

"Die Werkstatt der Holzbearbeitungsfabrik ist von Licht überflutet. Der lustige Gigant Micael Tingsmaster steht mit der Schürze und Pfeife an einer Werkbank und arbeitet munter drauf los, daß ihm die Schweißtropfen von der Stirn fallen. Das blonde Haar ist mit Spänen bedeckt, die Schürze bläht sich wie ein Segel auf, pfeifend fliegt der Hobel über das Holz. Die Sache wird gut, die aus der Hand Micael Tingsmasters stammt, – ihre beiden winzigen Äuglein: 'MM' blinzeln den Besucher an."1

In diesem Setting ist Mic eben (noch) kein Industrie-Arbeiter, sondern zeigt sich eher als Vertreter der vorindustriellen Handwerkerzunft. Er ist auch nicht Stahl-, sondern Holzarbeiter. Wahrscheinlich hat dies bereits viel mit jener abenteuerlichen Idealisierung zu tun, die in diesem Text am Werk ist und bald als störend für die Instrumentalisierung des Helden für die revolutionäre Angelegenheit klassifiziert werden wird. Als Handwerker verfolgt Tingsmaster nämlich auch nicht das Ziel, das Arbeiterheer über die Produktionsstätten herrschen, sondern „alle Gegenstände, die von den Händen der Arbeiter hergestellt werden, [diesen] gehorchen“2 zu lassen. Die von der revolutionären Handwerkerschaft hergestellten Dinge tragen allesamt die Initialen der geheimen Losung „Mess Mend“ (MM). Zum Handwerkstum passt auch, dass Tingsmaster und sein globales Netz zur Beseitigung von Missgeschicken unter der Losung „Mess Mend!“ dezidiert pazifistisch sind:

"'Wir wollen nicht töten', antwortet Mic, 'wir stehlen nicht, wir töten nicht, wir rächen uns nicht. Wir haben es erreicht, dass alle Gegenstände, die von den Händen der Arbeiter hergestellt werden, uns gehorchen – aber wir sind darum um keinen Cent reicher. Wir haben überall Zutritt, wir dringen in die Safes und Stahlkammern der Banken ein – aber keiner von uns hat jemals einen Dollar gestohlen. Und an unseren Händen haftet kein einziger feindlicher Blutstropfen.'"3

In der russischen Bearbeitung des Textes von 1956 sowie in der russischen Ausgabe von 1987 fehlt diese Passage. Schon die zeitgenössische Kritik (Juli/August 1924; bzw. August 1925) hat diese Konstruktion aufs Schärfste kritisiert: Von einem „antirevolutionären Boulevard-Geschmiere“ ist dort die Rede und man ist überzeugt, dass daraus keinesfalls Revolutionsliteratur werden könne. Kritisiert wird insbesondere, dass die Übernahme der Regierungsmacht nicht auf dem Plan von Tingsmaster und Co stehe, und immer wieder wird die Ablehnung von Gewalt zur Erreichung der revolutionären Ziele angeprangert. Šaginjans Arbeiterrevolte könnte somit – etwas zugespitzt – als Aufstand des ,Kunsthandwerks‘ (im eigentlichen, ungebräuchlichen Wortsinn) gelesen werden. Nicht ein System (das Kapital) durch Umsturz- bzw. An- und Enteignungsversuche letztlich in seiner Wirksamkeit zu bestätigen, sondern es durch ein anderes zu subvertieren, darin besteht die Strategie, die – so lasen wir in der zeitgenössischen Kritik – nicht nur als ineffektiv, sondern als antirevolutionär verurteilt wurde. Ließe sich diese Kritik etwas zugespitzt vielleicht so zusammenfassen: Doch zu viel Abenteuer, zu wenig Revolution?

Die Aktivitäten von Tingsmaster und seinen Gefolgsleuten sind in der Tat autonom („selbstbezogen, revolutionär“ im Sinne Blochs?) und wohl am besten mit den Kategorien des „ästhetischen Handelns“ zu fassen, das Michail Bachtin in den 1920er Jahren beschäftigte. Dies also noch bevor Bachtin die Freiheit der Helden Dostoevskijs auf die Tatsache zurückführte, dass Dostoevskijs Romane (i.e. die von Bachtin analysierten) auf dem Abenteuerschema beruhen und auch lange bevor er sich für den Abenteuerchronotopos im griechischen Roman begeisterte, befinde sich dieser doch „außerhalb von Raum und Zeit“. Revolution als Abenteuer war 1937 vielleicht noch denkbar, aber nicht mehr erzählbar.


Endnoten: 

1 Marietta Schaginjan: Mess Mend oder Die Yankees in Leningrad. Giessen: Anabis 1987, S. 159.

2 Ebd.

3 Ebd., S. 95.

 

Quellenverzeichnis 

Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs [1929]. Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullsteint 1985.

Bachtin, Michail: Chronotopos [1937]. Berlin: Suhrkamp 2008.

Bloch, Ernst: „Über Märchen, Kolportage und Sage“, in: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe Band 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 168-181.

Dralyuk, Boris: Wester Crime Fiction Goes East. The Russian Pinkerton Craze 1907-1934. Leiden u.a.: Brill 2012.

Foltin, Hans-Friedrich: „Vorwort“, in: Nat Pinkerton. Der König der Detectivs. 10 Lieferungshefte in einem Band. Hildesheim / New York: Olmas Presse 1974, o.S.

Lunc, Lev: „Nach Westen!“, in: Ders.: Die Affen kommen. Erzählungen, Dramen, Essays, Briefe,. Münster: Lang, 267-280.

Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart: Metzler 1980.

Schaginjan, Marietta: Mess Mend oder Die Yankees in Leningrad. Giessen: Anabis 1987.

 

Wesentliche Passagen dieses Essays stammen aus folgendem Aufsatz:

Obermayr, Brigitte: „Sieben Jahre, und noch immer ‚selbstbezogen, revolutionär‘? Revolution und Abenteuer in Mariėtta Šaginjans ‚Mess Mend ili Janki v Petrograde‘“, in: Niederbudde, Anke; Scholz, Nora (Hg.): Revolution und Avantgarde. Berlin: Frank&Timme 2018, 261-285.