Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Vingt mille lieues sous les mers

Essay von Wolfram Ette: „Wissenschaft als Abenteuer. Zu Jules Verne”

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Jules Verne hat den Ruf, ein Propagandist des naturwissenschaftlichen Fortschritts gewesen zu sein, dessen Antrieb und Errungenschaften er im großangelegten populärpädagogischen Unternehmen seiner über sechzig Romane einem überwiegend jugendlichen Publikum schmackhaft gemacht habe. Falsch ist das nicht. Aber ein wenig einseitig. Vernes Verhältnis zur Wissenschaft seiner Zeit war nicht unkritisch. Schon sein Katholizismus hielt ihn auf grundsätzlicher Distanz.

Bis zu seinem Tod 1905 ging er der Auseinandersetzung mit dem Werk Darwins aus dem Weg und sein einziger Einwand gegen den von ihm zutiefst bewunderten Edgar Allen Poe zielt darauf, dass es bei diesem keine Vorsehung gebe: „Dieser Unglückliche ist ein weiterer Apostel des Materialismus“, heißt es in einem literaturkritischen Essay über Poe. „[H]aben wir diese Neigung erkannt, können wir seine Werke bewundern“.1

Im Frühwerk spitzt sich die Kritik auf die Figur des ‚mad scientist‘ zu, etwa in Un voyage en ballon (1851) und in Maître Zacharias ou l’horloger qui avait perdu son âme (1854). Doch auch der Wahnsinn des Kapitän Hatteras am Ende des nach ihm benannten Romans (1864/65) ist wohl in dieser Richtung zu verstehen. Und auch dann, wenn die Wissenschaftlerfiguren der bekannten Entdeckerromane nicht eben verrückt sind: skurril sind sie allemal.

Hinzu tritt der seltsam antiklimaktische Charakter gerade der bekannten Erzählungen. Die Voyage au centre de la terre muss ebenso abgebrochen werden wie die Reise zum Mond. Das Ende der 20.000 lieues sous les mers ist in gewisser Hinsicht ebenfalls ein Abbruch: aus Gründen, die nicht recht durchsichtig werden, begibt sich das Unterseeboot des Kapitän Nemo in einen riesigen Maelstrom vor Norwegen; die Reisenden entkommen mit knapper Not und finden sich auf einem Fischereiland der Lofoten wieder – auch dies eher ein Abriss, ein Abbruch als ein kontinuierlich vorbereitetes Erzähltelos. Und in L’Île mysterieuse, das anhand einer Gruppe von Schiffbrüchigen auf einer Südseeinsel die Geschichte der menschlichen Zivilisation im Kurzdurchlauf nacherzählt, bricht die Geschichte gleichfalls ab – in Form eines Vulkanausbruchs, vor dem sich die Robinsone in letzter Sekunde in Sicherheit bringen.

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Im Zentrum dieser – man könnte vielleicht sagen: solidarischen – Skepsis gegenüber dem Unternehmen Wissenschaft steht ihr Verhältnis zur Natur. Was das betrifft, ist 20.000 lieues sous les mers, das Verne neben Die geheimnisvolle Insel für sein wichtigstes Buch hielt, repräsentativ. Denn das Meer, mit dem Verne auch persönlich viel verband (1867, dann noch einmal 1878 ließ er sich ein Segelboot bauen, ein schwimmendes Arbeitszimmer, auf dem er Monate verbrachte), ist ja vor allen anderen Elementen mit Ursprungsassoziationen gesättigt; nicht bloß Natur, sondern ihr Schoß und lebendiges Wesen; das Element, das dem Begriff der natura naturans in der Anschauung am nächsten kommt. Das Meer ist keine Sache, kein Ding, keine res extensa mit der einzig noch vorfindlichen Qualität der Form; es ist, mit Heidegger gesprochen, kein ‚Vorhandenes‘, sondern eine alles umhüllende, lebendige Realität.

Das Meer, so legt es Kapitän Nemo seinem mitreisenden Gast immer wieder nahe, ist ein Organismus; nicht bloß ein Ort, an dem sich Lebendiges in einer unfasslichen Vielfalt aufhält, sondern selbst ein lebendiges System. „La mer est tout! […] La mer n'est que le véhicule d'une surnaturelle et prodigeuse existence; elle n'est que mouvement et amour; c'est l'infini vivant, comme l'a dit un de vos poètes.2 Voyez cet océan, monsieur le professeur, n’est-il pas doué d’une vie réelle? N’a-t-il pas ses colères et ses tendresses? Hier, il s’est endormi comme nous, et le voilà qui se réveille après une nuit paisible! […] Regardez, reprit-il, il s’éveille sous les caresses du soleil! Il va revivre de son existence diurne! C’est une intéressante étude que de suivre le jeu de son organisme. Il possède un pouls, des artères, il a ses spasmes, et je donne raison à ce savant Maury, qui a découvert en lui une circulation aussi réelle que la circulation sanguine chez les animaux.” (S. 204 f.) Dieses lebendige System ist ein Mysterium, seine Schau eine quasi religiöse Erfahrung, durch die ein Anspruch der Romantik in Vernes Werk widerhallt.

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Freilich ist die Fahrt der Nautilus keine rein naturmystische und in diesem Sinn regressive Unternehmung. Es ist ja ein technisches Wunderwerk, das durch die Meerestiefen gleitet; konstruiert vom versiertesten Ingenieur seiner Zeit, autark und mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet. Und es wird angetrieben von einer Kraft, die mehr ist als nur ein Hilfsmittel, sondern eine technoide Verkörperung des mystischen Lebensgrundes selbst zu sein scheint: der Elektrizität, in die Verne ein metaphysisches Potenzial hineingeheimnisst hat, das sie bis heute nicht abdeckt: „Il est un agent puissant, obéissant, rapide, facile, qui se plie à tous les usages et qui règne en maître à mon bord. Tout se fait par lui. Il m’éclaire, il m’échauffe, il est l’âme de mes appareils mécaniques. Cet agent, c’est l’électricité. […] Je ne vous demande qu’un peu de patience, puisque vous avez le temps d’être patient. Rappelez-vous seulement ceci : Je dois tout à l’océan; il produit l’électricité, et l’électricité donne au Nautilus la chaleur, la lumière, le mouvement, la vie en un mot.” (S. 138, 140)

Verne überlagert also Vorstellungen des Ursprungs und des Allerneuesten, allein den Phantasien der Science-Fiction Zugänglichen. Sein Begriff des Fortschritts ist dialektisch: kein einsinniges Sichabstoßen vom Vergangenen, sondern auch eine Entbergung des Ursprungs. Progression und Regression sind ineinander verschränkt, jeder Schritt nach vorn, den die wissenschaftlichen Abenteurer unternehmen, führt zugleich zurück in die Tiefen der Vergangenheit und der noch fast ungeformten Anfänge.

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Auf diese Janusköpfigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts, wie er sein soll, führt auch die Personenkonstellation von 20.000 Meilen unter dem Meer. Sie ist in einem solchen Maße künstlich und bar jeder psychologischen Wahrscheinlichkeit angelegt, dass sie schwerlich aus einer Anschauung resultiert. Die Personen erscheinen vielmehr wie Kollateralprodukte einer im voraus entworfenen Konzeption. Schematisch und klischeehaft wie sie sind, repräsentieren sie mitsammen gleichwohl eine Idee. Es ist die des wissenschaftlichen Fortschritts selbst, der in ihnen in seine Einzelaspekte aufgespalten erscheint.

Da haben wir Conseil, den Diener des Professors, dessen charakterliche Eigenschaften sich auf die absolute Ergebenheit gegenüber seinem Herrn und die auswendig gelernte Kenntnis des biologischen Klassifikationssystems beschränken. Er ist, wohlgemerkt, kaum in der Lage, eines der Meerestiere, die die Reisenden durch die Panoramafenster der Nautilus betrachten, zu identifizieren; aber kennt er einmal ihre Namen, ist er besser als jeder andere in der Lage, ihnen ihren Platz in der biologischen Systematik anzuweisen. Er ist eine Karikatur, jedoch keine bösartige, kein Wissenschaftsspießer wie Goethes Wagner, sondern eine Kapazität, auf die es auch ankommt, und die zu respektieren ist, solange sie ihre dienende Funktion nicht verlässt.

Weiter ist da Ned Land, der Harpunier, den Professor Arronax auf der ‚Abraham Lincoln‘ kennengelernt hat und dessen Fähigkeiten im Umgang mit der Harpune all das, was modernste Technik auszurichten im Stande wäre, übertreffen. „Donc, l’Abraham- Lincoln ne manquait d’aucun moyen de destruction. Mais il avait mieux encore. Il avait Ned Land, le roi des harponneurs.“ (S. 57) Er entspricht dem archaischen Typus des Jägers, dessen Verhältnis zur Natur allein vom Kalkül des Nutzens bestimmt ist; die simplen Kategorien, nach denen er ihre Erscheinungen klassifiziert, sind ‚essbar/nicht essbar‘ sowie ‚schmackhaft/nicht schmackhaft‘. Er spricht „cette vieille langue de Rabelais qui est encore en usage dans quelques provinces canadiennes“ und wenn er von seinen Abenteuern berichtet, glaubt der Erzähler einen „kanadischen Homer zu vernehmen, der die Ilias der nördlichen Regionen anstimmt“ (S. 57). Gleichzeitig bewahrt ihn sein körperliches Nahverhältnis zur Natur vor allen ihr geltenden aggressiven Regungen; von dem Gemetzel, das Kapitän Nemo unter den Pottwalen anrichtet, die, warum auch immer, von der schönen Ordnung des Meeres ausgenommen werden, kann er sich nur mit Grausen abwenden.

Arronax wiederum ist vermutlich in Fragen der naturwissenschaftlichen Systematik ähnlich beschlagen wie sein Diener, unterscheidet sich aber in zwei Punkten ganz wesentlich von ihm. Er ist zum einen in der Lage, das, was er sieht, zu identifizieren und sogar bislang unbekannte Lebensformen zu klassifizieren. Er ist die Kapazität wissenschaftlicher Innovation, weil Anschauungen und Begriffe in ihm fluktuierend aufeinander einwirken. Zum anderen aber hat er, was seine Gefährten nicht haben – einen Sinn für die Schönheiten der Natur, der sich bis zur ekstatischen Verzauberung steigern kann: „Nos interjections ne tarissait pas. Ned nommais les poissons, Conseil les classait, moi, je m'exstasiais devant la vivacité de leurs allures et la beauté de leurs formes. Jamais il m'avait donné de surprendre ses animaus vivants, et libres dans leurs élément naturel” (S. 171). Von den drei Abenteurern ist er diejenige Figur, die der Erfahrung der natura naturans als lebendigem Ursprung am nächsten kommt.

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Deswegen ist er der bevorzugte Gesprächspartner Nemos, in dessen Figur sich die drei von Conseil, Ned Land und Arronax ausgehenden Vektoren bündeln und in einer spezifischen Weise übersteigert werden. Denn der Kapitän ist das alles: er kennt die Wissenschaften gründlich wie kein anderer; er hat die Ausnutzung der submarinen Ressourcen vervollkommnet und ist ein furchtloser Jäger, der einen Hai mit bloßem Messer angreift. Zugleich steht er den Wundern des Meeres ehrfürchtiger als jeder andere gegenüber. Die metallene Hülle, die er sich zugelegt hat, ist Bibliothek und ozeanographisches Museum, eine tödliche Waffe, ein früher Kinosaal und: eine Kirche der unterseeischen Welt, auf deren Orgel der Kapitän die melancholischen Hymnen der submarinen Schöpfung spielt. Aber Nemo ist noch mehr, ein Ausgestoßener, der mit der Menschheit gebrochen hat und einen mythischen Rachefeldzug gegen die Angehörigen der Nation führt, die er für sein Schicksal verantwortlich macht.3 Nemo contra deum, könnte man kalauern. Wie der Graf von Monte Christo, der wohl ein entferntes Vorbild darstellt, ist er ein mit unermesslichen Schätzen ausgestatteter schwarzer Engel, der sich anmaßt, Vorsehung zu spielen.

Diese Antagonismen erzeugen das Spannungsfeld, in das das von Verne propagierte Naturverhältnis eingezeichnet werden kann. Er ist kühl denkender Ingenieur und outlaw mythischen Formats, gastfreundlich und menschenfeindlich, ein Stoiker, hinter dessen Fassade ein wilder Zorn sich regt, der jederzeit zum Ausbruch kommen kann; letztlich ein suizidaler Charakter, für den der eigene Tod gleichbedeutend mit der Rückkehr in den Lebensursprung ist.

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Doch warum hat Verne diese faszinierende, aber hochproblematische Gestalt zum Attraktionszentrum seiner wissenschaftlichen Unterweltsreise gemacht? Tut er damit seiner Kritik an der rationalistisch verengten Wissenschaft einen Gefallen? Es scheint, als wolle er darauf aufmerksam machen, wie gefahrvoll und in diesem Sinne abenteuerlich der Weg der Wissenschaft sein kann und sein sollte: dass nämlich der Ursprung, von dessen Vergegenwärtigung ein verantwortliches Naturverhältnis abhängt, jeden, der es unternimmt, sich ihm zu nähern, verschlingen kann. Fortschritt, wie er Verne vorschwebte, ist kein Automatismus. Er trägt vielmehr die Züge eines Entrinnens aus der Katastrophe, eines Davongekommenseins im letzten Moment an sich. Letztlich verdankt er sich einem Gnadenakt, einer unratifizierbaren Leerstelle, über die keine Auskunft gegeben werden kann. Der Weg aus dem Maelstrom ist ein Geburtsakt; er hat stattgefunden, aber es gibt nichts über ihn zu berichten: „Ce qui se passa pendant cette nuit, comment le canot échappa au formidable remous du Maelström, comment Ned Land, Conseil et moi, nous sortîmes du gouffre, je ne saurai le dire“. (S. 593) Durch dieses Mysterium einer letztlich durch göttliche Vorsehung möglich gewordenen Wiedergeburt zur Welt ist es möglich, all das Wissen um die tieferen Zusammenhänge der Natur, das Kapitän Nemo mutmaßlich mit sich in die Tiefe hinabgenommen hat, weiterzugeben in der pathetischen Formel, mit der der Roman endet: „à cette demande posée, il y a six mille ans, par l’Ecclésiaste : ‚Qui a jamais pu sonder les profondeurs de l’abîme?‘ deux hommes entre tous les hommes ont le droit de répondre maintenant. Le capitaine Nemo et moi.“ (S. 595)

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Offenbar hat die Attraktivität dieses Schemas nachgelassen. Verne wird nicht mehr so viel gelesen. Als Grund dafür wird angegeben, er sei nicht spannend. Frage ich im Bekannten- und Freundeskreis herum, ob es irgendwo Söhne, Neffen, Enkel gibt (er ist nun mal ein Jungsautor), bei denen man mit einem Roman Jules Vernes landen könnte, war die Antwort Nein, er sei langweilig. Was ist der Grund dafür? Wodurch könnte sich die Popularität dieses Autos so vermindert haben? Und an welchen Stellen bricht die Langeweile, dieser schlimmste Alptraum aller Kinder und Jugendlichen, in die Lektüre ein?

Überschaut man 20.000 lieues sous les mers, so fällt auf, dass die Erzählung in der Tat außerordentlich wenig Spannungsmomente bietet. Es sind im Grunde nur drei: der Kampf zwischen der ‚Abraham Lincoln‘ und der Nautilus, die Unterquerung des Südpols, die um ein Haar die Besatzung des Unterseeboots das Leben gekostet hätte, und die Fahrt in und durch den Maelstrom, die die Flucht von Professor Arronax und seinen Freunden ermöglicht. Dazwischen sind lange Partien beschreibenden Charakters eingelagert, außerdem noch einige wenige Episoden wie die Auseinandersetzung mit den Einwohnern der Insel an der Straße von Torrès sowie die Kämpfe mit Pottwalen und Riesenkraken, bei denen die Naturfrömmigkeit Nemos offenbar ihre Grenze findet. Aber diese Episoden sind im Grunde durch das unerschütterliche Selbstvertrauen des Kapitäns auf eine solche Weise im Voraus entschieden, dass alle Spannung, die man dabei empfinden mag, flach und prägnant bleibt. 

Zweifellos hätte Verne es besser gekonnt. Die Südpol-Episode ist nach dem simplen, aber höchst wirksamen Schema der ablaufenden Zeit gebaut. Wie im Finale von Cinq semaines en ballon ist es die immer weniger werdende Luft, die die Handlungsspielräume der Protagonisten unerbittlich einengt und die Wahrscheinlichkeit ihres Entkommen dramatisch herabsetzt. Bis heute funktioniert das bestens, die Zeitbombe ist ein Spannungsmotiv, auf das sich die Produzenten populärer Erzählformate verlassen können wie eh und je.

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Verne hat es also nicht gewollt. Die drei Spannungspole des Romans sind Mittel zum Zweck der beschreibenden, von Alphonse de Neuvilles eindrucksvollen Stichen untersetzten Passagen, in denen die unterseeische Welt – das also, was Verne von ihr wusste und das, was er sich über sie zusammenfantasierte – in langen Aufzählungen entfaltet wird. Ein Beispiel: „Pendant deux heures, toute une armée aquatique fit escorte au Nautilus. Au milieu de leurs jeux, de leurs bonds, tandis qu’ils rivalisaient de beauté, d’éclat et de vitesse, je distinguai le labre vert, le mulle barberin, marqué d’une double raie noire, le gobie éléotre, à caudale arrondie, blanc de couleur et tacheté de violet sur le dos, le scombre japonais, admirable maquereau de ces mers, au corps bleu et à la tête argentée, de brillants azurors dont le nom seul emporte toute description, des spares rayés, aux nageoires variées de bleu et de jaune, des spares fascés, relevés d’une bande noire sur leur caudale, des spares zonéphores élégamment corsetés dans leurs six ceintures, des aulostones, véritables bouches en flûte ou bécasses de mer, dont quelques échantillons atteignaient une longueur de un mètre, des salamandres du Japon, des murènes échidnées, longs serpents de six pieds, aux yeux vifs et petits, et à la vaste bouche hérissée de dents, etc.“ (S. 169) In solchen Aufzählungen besteht das Hauptinteresse dieses Buches, in der systematisierenden oder wenigstens mit dem Anschein wissenschaftlicher Systematik ausgestatteten Veranschaulichung der submarinen Welt als einer »Wunderkammer« (Ricardo Nicolosi), die sich dem wissenschaftlichen Blick darbietet, um sich ihm stets aufs Neue zu entziehen. Dazu passt, dass es an seinen Spannungsschaltstellen wenig bis nichts zu sehen gibt. Entweder herrschen Dunkelheit und Chaos oder es ist, wie unterm Südpol, einfach lebensleer und öde.

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Wenn Kinder und Jugendliche heute bekunden, ein Buch wie 20.000 lieues sous les mers sei langweilig, dann hat das viele Gründe. Der Rückgang des Buchs als Leitmedium zumindest bürgerlich Heranwachsender; die Konkurrenz visueller Medien in Film und Computerspielen; die relativ kurzen, vor allem an Einzelepisoden gebundenen Taktraten der Spannung –: das alles hat dazu geführt, dass Autoren wie Verne, aber auch Karl May, die Generationen von überwiegend männlichen Adoleszenten verschlungen haben, als äußerst langatmig empfunden werden. Dass, was Adorno die „Atomisierung der Wahrnehmung“ nannte und bereits in den 1930er Jahren dem kulturindustriellen Massenpublikum bescheinigte, tritt hier noch immer in sein Recht, auch wenn man die Klage über den damit verbundenen Kulturverfall nicht teilt und akzeptiert, dass den historischen Wahrnehmungsveränderungen ästhetische Reize entsprechen können, die nicht geringerwertig, sondern nur anders als diejenigen sind, die jetzt obsolet erscheinen.

Es bleibt freilich die Frage, ob auch das Interesse an der Sache zurückgegangen ist. Weder der Mond, noch die unkartierten Gebiete Afrikas, noch der Meeresgrund sind terra incognita in dem Grade wie zur Vernes Zeit. Die ‚Wissenschaft als Abenteuer‘, die ins Unerkannte vordringt, gibt es nach wie vor, aber sie hat es mit Bereichen wie etwa dem Aufbau der Elementarteilchen oder der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu tun, die sich der Anschaulichkeit entziehen und in denen vor allem die Figur der oder des Reisenden ausfällt. Die Apparate und Maschinen, die den klassischen Abenteurer umgeben, von der Ritterrüstung bis zur Mondrakete, haben sich von den Körpern gelöst und operieren nun ferngesteuert in der zu erforschende Sphäre. Auch in der Raumfahrt gehört die heroische Einheit von Mensch und Maschine im Prinzip der Vergangenheit an. Zwar kreisen noch immer bemannte Raumstationen um die Erde, aber ihre Bewohner sind gut trainierte Verwaltungsangestellte der Wissenschaft, die die Maschinen warten, durch die der Erkenntnisfortschritt sich vollzieht. Apollo 13 war das letzte Weltraumabenteuer in Vernes Stil.

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Aber das entscheidende Motiv, das in das zunehmende Desinteresse an abenteuerlichen Wissenschaftsfiktionen hineinspielt, ist wohl die Skepsis gegenüber dem Gattungsunternehmen Wissenschaft. Das Fortschrittpathos, von dem Vernes Romane trotz aller Kritik am blind voraneilenden, rein rationalistischen Fortschritt beseelt sind, ist selbst hohl geworden, und die Naturfrömmigkeit, die er mit dem Fortschrittsbewusstsein zu paaren versuchte, wurde von der technischen Wirklichkeit überholt. Sie existiert im Anthropozän allenfalls noch als esoterische Komplementärveranstaltung. Die seit der Kubakrise, dann durch die ökologischen Debatten ab den 1970er Jahren allmählich ins Bewusstsein getretene, jetzt durch die Klimadiskussion aktualisierte Einsicht, dass die Naturwissenschaften nicht das Paradies auf Erden herbeiführen, sondern womöglich für den evolutionären Untergang der menschlichen Gattung verantwortlich sein könnten, hat dem Vordringen in unbekannte Welten eine moralische Grenze gesetzt.

Dieses Vordringen ins Unbekannte steht aber im Zentrum der nicht endenden Beschreibungen Vernes. Aus der dunklen Tiefe heben sich im technisch verstärkten Schein des menschlichen Erkenntniswillens Gestalten hervor, die wir (in der Regel) nicht kennen, deren Namen und wissenschaftliche Klassifikation uns nichts sagen, die aber sichtbar und in ihrer Schönheit anschaulich werden. In jeder Beschreibung und Benennung erweitert sich wissenschaftlich-ästhetisch der Kreis unserer Vorstellung und die Reichweite unseres Weltzugangs. Und jedes dieser Bildungsereignisse soll sein: ein Abenteuer en miniature – nicht sujethaft verfestigt, aber ein winziger Impuls der Triebsubstanz des Entdeckens, die den Erzählformen des Abenteuers zugrunde liegt. Auch die Jugendlichen des 19. Jahrhunderts dürften die Beschreibungskaskaden, die einen so beträchtlichen Teil von 20.000 lieues sous les mers ausmachen, als nicht übermäßig spannend empfunden haben. Dennoch lässt sich mutmaßen, dass sie wenigstens in höherem Maße fasziniert waren von der immer wieder aufs Neue überschrittenen Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, an der Vernes Abenteuer seinen Platz hat.

Dieser Punkt, auf den sich Vernes ganzes Pathos und, wenn man will, die ideologische Substanz seines Unternehmens zusammenzieht, ist unfühlbar geworden. Was sich bei den Heranwachsenden einstellt, die sich eine Welt ohne die Segnungen der Technik nicht vorstellen können, ohne sie recht zu genießen, ist ein taubes Gefühl. Das Abenteuer des Fortschritts ist zum anästhetischen Punkt geworden, von dem man sich abwendet, weil es nichts mehr zu feiern, nichts mehr zu kritisieren gibt. Die Langeweile, die sie bekunden, ist aus dieser Sicht nicht bloß die Abwesenheit von Spannung. Durch sie drückt sich ein emotionsloser Widerwille aus, sich mit dem zu beschäftigen, was in der alternativlosen Welt, in der man sich eingerichtet hat, zur Ideologie geworden ist.

 

Endnoten:

1 Jules Verne: „Edgar Poe et ses oeuvres“ (1864). In: ders.: Textes oubliées. Paris 1979, S. 113 f.

2 Jules Verne: Vingt mille lieues sous les mers. Paris: Librairie Générale Française 1990, S. 125.

3 Am Ende von L’Île mysterieuse wird dies aufgeklärt. Die gestrandeten Zivilisationshelden treffen hier ihren Beschützer – den sterbenden Kapitän Nemo, der sie über seine Herkunft unterrichtet. Er war, so heißt es da, ein indischer Prinz, der 1857 während des Sepoy-Aufstands gegen die Engländer seine Familie verlor. Die Herrschaft der Engländer auf dem Subkontinent festigte sich dadurch; der Prinz resignierte und zog sich als Kapitän Nemo in die Unterwelt des Meeres zurück.