Forschergruppe „Philologie des Abenteuers“
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Le Comte de Monte-Cristo

Essay von Manuel Mühlbacher: "Was trieb Edmond Dantès in den Jahren 1829 bis 1838? Auf der Suche nach Abenteuer-Residuen in Le Comte de Monte- Cristo"

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Es ist der 5. September 1829, und Edmond Dantès befindet sich wieder in Marseille. Einige Monate zuvor, am 28. Februar, gelang ihm seine spektakuläre Flucht aus dem Château d’If. Kurz darauf nahm er auf der Felseninsel Monte-Cristo den Schatz in Besitz, dessen Versteck er von seinem Mitgefangenen und Mentor, dem Abbé Faria, erfahren hatte. Von den Ereignissen des 5. September berichtet das 30. Kapitel von Alexandre Dumas’ Le Comte de Monte-Cristo. Man erfährt dort, wie der paternalistische Reeder Pierre Morel durch Edmonds Eingreifen im letzten Moment vor der Zahlungsunfähigkeit und dem Suizid gerettet wird. Am Ende des Kapitels verkündet Edmond, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits allerlei Masken und Verkleidungen bedient, aber noch nicht als Graf von Monte-Cristo aufgetreten ist, dass nun die Zeit der Vergeltung gekommen sei:

Et maintenant, dit l’homme inconnu, adieu bonté, humanité, reconnaissance... Adieu à tous les sentiments qui épanouissent le cœur!... Je me suis substitué à la Providence pour récompenser les bons... que le Dieu vengeur me cède sa place pour punir les méchants! (XXX, 330)1

Das folgende, 31. Kapitel setzt jedoch zu Beginn des Jahres 1838 ein, wo Edmond – unter dem Pseudonym „Simbad le Marin“ und in der Rolle eines opulenten orientalischen Fürsten – den jungen Franzosen Franz d’Épinay auf Monte-Cristo empfängt. Was er in den neun Jahren, die zwischen beiden Kapiteln vergehen, unternommen hat, wird im Roman nie auserzählt. Volker Klotz hat diese Lücke als eine „Erzählkerbe“ bezeichnet, die den Lebenslauf des Protagonisten in zwei Hälften teilt und die unplausible Verwandlung Edmonds in den Grafen von Monte-Cristo kaschiert. In dieser Kerbe liegen für Edmond die „Lehrjahre seiner Allmacht“2, über die man kaum etwas erfährt, die jedoch sowohl für die anderen Figuren des Romans als auch für dessen Leserinnen und Leser eine phantasmatische Projektionsfläche darstellen. Diese Projektionstätigkeit wird nicht zuletzt durch das Verhalten des Grafen selbst befeuert – durch dessen exzentrisches Auftreten, aber auch durch gezielt gesetzte Andeutungen auf dessen orientalische Erfahrungen. Im 69. Kapitel gibt er etwa der Pariser Polizei über seine eigene Vergangenheit Auskunft, indem er sich hinter der Maske des italienischen Priesters Busoni und der des englischen Lords Wilmore gleich zwei Mal einem Verhört stellt. Seine Angaben – Monte-Cristo heiße mit bürgerlichem Namen Zaccone und sei der Sohn eines maltesischen Reeders – sind, wie die Leserinnen und Leser wissen, größtenteils erfunden. Ob Monte-Cristo sich jedoch – wie ‚Wilmore‘ behauptet – in Griechenland oder Indien aufgehalten hat und ob die Geschichten, mit denen er die Polizei abspeist, zumindest Spuren von Wahrheit enthalten, erfahren wir nie.

Festzustehen scheint, dass der Held die Jahre 1829 bis 1838 im Orient verbracht hat, wobei dieser Begriff beinahe alle Länder außerhalb Frankreichs umfasst. In erster Linie meint ‚Orient‘ gar keinen realen geographischen Raum, sondern ein europäisches Imaginäres, das sich bei Dumas nicht zuletzt aus den Märchen aus Tausendundeine Nacht speist.Der fiktionale Status dieser Art von ‚Orient‘ wird im Roman explizit als solcher reflektiert, als der junge Albert de Morcerf – offenbar ein Leser der Galland’schen Übersetzung – in Gegenwart von Monte-Cristo und dessen griechischer Sklavin Haydée sagt: „voici que je retrouve l’Orient, l’Orient véritable, non point malheureusement que je l’ai vu, mais tel que je l’ai rêvé au sein de Paris.“ (LXXIV, 949) Dieser erfundene, aber aus europäischer Sicht einzig wahre Orient überlagert sich bei Dumas mit durchaus präzisen realhistorischen Anspielungen. Zu nennen wäre in dieser Hinsicht vor allem die französische Eroberung Algeriens ab 1830, an der mehrere Figuren des Romans teilnehmen. 4 Obwohl sein Orientaufenthalt zeitlich sehr präzise mit diesen Ereignissen zusammenfällt, scheint Monte-Cristo – oder sollten wir Sindbad der Seefahrer sagen? – nur den Orient der Märchen bereist zu haben. Die Realpolitik des französischen Kolonialismus wird durch andere Figuren ins Spiel gebracht, und auch dies nur sehr punktuell.

Das orientalistische Imaginäre, das damit umrissen ist, entsteht im Text aus einem Netzwerk von erzählten Objekten, Ideologemen und anzitierten Intertexten. Orientalisch ist nicht nur Monte-Cristos Lebensstil, sondern auch sein Hausstand: In Gestalt des nubischen Dieners Ali und der griechischen Prinzessin Haydée hält er sich zwei Sklaven, die er im Orient erstanden hat, den ersten vom Bey von Tunis, die zweite von Sultan Mahmud II. in Konstantinopel (vgl. XXXI, 349 u. LXXVIII, 963). Orientalisch ist aber auch die Handlungsmaxime seines Rachefeldzugs, der dem ius talionis folgt: „œil pour œil, dent pour dent, comme disent les Orientaux, nos maîtres en toutes choses“ (XXXV, 426). Zur Einübung dieser Maxime gehört eine Initiation in die Kunst der Grausamkeit, die Edmond ab 1829 durchlaufen zu haben scheint. Bevor er Ali kauft, wartet er, bis diesem die Zunge herausgeschnitten wurde. Von den ‚Orientalen‘ erlernt er zudem das Giftmischen und den Genuss an raffinierten Hinrichtungspraktiken – zwei Kompetenzen, die ihm später in Paris, wenn auch in verschobener und sublimierter Form, von großem Nutzen sind. In Bezug auf die orientalistische Intertextualität wären neben Tausendundeine Nacht auch die Werke Lord Byrons (sowie dessen self-fashioning) zu nennen. Die Anspielungen auf Manfred und Don Juan vermitteln zwischen unterschiedlichen Polen der Monte-Cristo-Figur, nämlich zwischen dem schauerromantischen Helden und dem Orientreisenden.5

Die Erzählmuster, die mit diesem Orient verbunden sind, ließen sich wohl am ehesten als abenteuerlich bezeichnen. Nicht dass nach dem Schatzfund auch nur ein einziges Abenteuer auserzählt würde: Die providentielle Kontrolle, die der Graf über die Ereignisse ausübt, zielt vielmehr darauf ab, die potentiellen Zufälle, aus denen Abenteuer entstehen können, zu eliminieren. Kontingente Rückschläge, die ohnehin extrem selten sind, begreift Monte-Cristo stets als narzisstische Kränkungen. Während auf französischem Boden die narrative Providenz unangefochten herrscht, ist deren Peripherie aber zumindest abenteuerlich konnotiert. Dies liegt einerseits daran, dass Dumas den Mittelmeerraum als Residuum von Abenteuer-Chronotopoi beschreibt. Neben den Schiffen rechtschaffender Handelstreibender und profitgieriger Spekulanten sind hier nämlich vor allem Schmuggler und Piraten unterwegs. In dieses vormoderne und hochgradig idealisierte Milieu mischt sich Monte-Cristo; er macht die maritimen Kleinkriminellen zu seinen Handlangern und steht diesen in schwierigen Situationen als väterlicher Beschützer zur Seite. Ähnlich verhält es sich in der Italien-Episode der Kapitel 31 bis 38 – einer Art Vorhof des Orients –, wo der Protagonist erstmals als Graf von Monte-Cristo auftritt. Auch hier sind andere Figuren die Subjekte des Abenteuers, nämlich Franz d’Epinay und Albert de Morcerf, die offenbar in der Erwartung erotischer und heroischer Bewährungsproben über die Alpen gereist sind. Monte-Cristo ist die providentielle Macht im Hintergrund, die Franz eine (nicht zuletzt opiuminduzierte) Nacht im Reich von Tausendundeine Nacht verschafft und Albert aus den Händen der römischen Banditen um Luigi Vampa befreit. Darüber hinaus gibt es eine weitere Figur, die nachweislich im Orient unterwegs war, nämlich Edmonds Rivale Fernand, der später als Comte de Morcerf in der französischen Chambre des Pairs sitzt.Fernand ist die Figur des ruchlosen Glücksritters: 1822 soll er Ali Pascha, den Herrscher von Janina und den Vater der damals noch vierjährigen Haydée, verraten haben und dadurch zu seinem Reichtum gekommen sein. Mit einem Abstand von etwa einem Jahrzehnt kreuzen sich im osmanischen Reich bzw. an dessen Rändern die Wege der beiden Erzfeinde: Irgendwann nach 1831 kauft Monte-Cristo Haydée auf dem Sklavenmarkt von Konstantinopel.7 Wie aber hat dieser seine neun Jahre im Orient verbracht? Begriff er den Orient als Abenteuerraum? Der Polizeiinspektor, der ‚Busoni‘ und ‚Wilmore‘ verhört, will jedenfalls mehr über die „aventures de jeunesse de M. Zaccone“ erfahren (LXIX, 844). ‚Wilmore‘ wiederum schreibt Zaccone eine turbulente Jugend in der griechischen Revolution zu (die 1829, im Jahr von Edmonds Flucht, endete): „Alors avaient commencé ses voyages, ses duels, ses passions“ (LXIX, 847). Welche Rolle das Abenteuer für die Lehrjahre der Allmacht gespielt haben könnte, bleibt offen. Es ist eines der narrativen Schemata, das in Bezug auf die orientalische Geburt Monte-Cristos anzitiert wird. Da kein Schema wirklich aufgeht, entsteht ein erhabener Überschuss, der der Figur ihre Aura verleiht.

Warum besteigt Edmond am Ende des 30. Kapitels also ein Schiff, das ihn für neun Jahre in den Orient bringt, statt mit der Postkutsche auf schnellstem Weg von Marseille nach Paris zu fahren? Während Edmond sich umgehend nach seiner Flucht – also noch im Jahr 1829 – als Abbé Busoni, Lord Wilmore oder Vertreter der Handelsgesellschaft Thomson et French verkleiden kann, hat die persona des Grafen von Monte-Cristo offenbar einen anderen Status. Sie ist keine Verkleidung, sondern das Ergebnis einer Verwandlung. Gerade weil diese sich nicht als kontinuierliche Entwicklung, sondern sprunghaft vollzieht (so Klotz), bedarf sie einer Plausibilisierung, die Dumas in Form eines längeren Aufenthalts in einem Raum voller Phantasmen anbietet, von denen keines eine definierbare narrative Form annimmt. Der Orient ist somit eine konstitutive Leerstelle – und er ist nicht die einzige im Roman. Ganz ähnlich verfährt Dumas nämlich bei der Darstellung des Grafen selbst. Dessen Innenleben – Gedanken, Affekte, Pläne – werden an keiner Stelle explizit ausformuliert. Die Fokalisierung ist in Bezug auf ihn immer extern.Gerade dadurch wirkt er wie ein gottesähnlicher Rächer, der jeder menschlichen Kalkulation immer einen Schritt voraus ist und dessen Walten man erst im Moment der Realisation wirklich versteht. Der Orient wiederum, der ebenfalls nie direkt gezeigt, sondern nur mit Spekulationen und Imaginationen besiedelt wird, ist gewissermaßen das Jenseits, aus dem dieser Rachegott die Immanenz Europas betritt und in das er zum Schluss wieder entschwindet. In einem gewissen Sinne soll es sich bei Monte-Cristos messianischem Entschwinden am Ende des Romans – das nur in den Orient führen kann – wohl um eine Heimkehr und eine Heilung handeln. Von dort stammt die Fülle, die dem Helden anfangs entzogen wird: Edmonds Verlobte Mercédès ist als Quasi-Orientalin charakterisiert; sie scheint einer von der iberischen Halbinsel geflohenen Gemeinde katalanischer Mauren anzugehören. 10 Aus dem Orient stammt auch Haydée, die sich zuletzt als vollwertiger Ersatz für Mercédès erweist. Und zuletzt findet sich im Orient so manche Spur des Übervaters Napoleon, mit dessen Scheitern im Jahr 1815 Edmonds traumatisches Schicksal so eng verbunden ist. Realgeschichtlich wäre dabei an den Ägyptenfeldzug der Jahre 1798 bis 1801 zu denken, der den französischen Orientalismus des 19. Jahrhunderts einläutet. Im Roman erfährt man außerdem, dass Ali Pascha, der als väterlicher, durchaus sympathischer Despot gezeichnet wird, von Napoleon ein Gewehr zum Geschenk erhielt (vgl. LXXVII, 953). Auch dafür benötigt der Text seinen orientalischen Hinterhof: Dieser ist der Ort einer märchenhaften Verwandlung und einer ebenso märchenhaften Heilung.

Endnoten 

[1] Alle Zitate mit Kapitel- und Seitenangabe im Fließtext nach: Alexandre Dumas: Le Comte de Monte-Cristo. Hg. v. Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard 1998.

[2] Volker Klotz: Abenteuer-Romane, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 66.

[3] Zum Orientalismus des Comte de Monte-Cristo vgl. auch Silvia Marsans-Sakly, „Geographies of Vengeance: Orientalism in Alexandre Dumas’ The Count of Monte Cristo“. In: The Journal of North African Studies 24 (2018), S. 1–20, die viel Material zum Thema zusammenträgt und dessen ideologische Funktion analysiert. Ihr Argument, dass der Roman nicht nur eine „Romantic adventure story“, sondern darüber hinaus auch ein historisches Dokument des europäischen Imperialismus sei (S. 2), scheint mir jedoch auf einem unscharfen Abenteuer-Begriff zu beruhen: Erstens ist der Comte de Monte-Cristo kein Abenteuerroman, zweitens sind die Abenteuer-Residuen, die er aufweist, gerade mit seinen orientalistischen Elementen verbunden, und drittens ist das Abenteuer insgesamt ein zentrales Element imperialistischer Ideologie.

[4] Der Sohn von Pierre Morrel, Maximilien, ist Angehöriger der Armee und 1837 an der Belagerung von Constantine beteiligt, wo er dem Journalisten Beauchamp das Leben rettet (vgl. XXXIX, 495 f.). Albert de Morcerf tritt am Ende des Romans in die Armee ein und bereitet sich ebenfalls auf einen Einsatz in Algerien vor (vgl. CXII, 1335).

[5] Die Anspielungen auf Byrons schauerromantische Helden finden sich vor allem in der Rom-Episode (vgl. XXXVI, 453). In Paris stellt Albert fest, dass Haydée nach einer Geliebten von Byrons Don Juan benannt ist (vgl. LXXVII, 945). Die Episode im zweiten Canto des Don Juan findet auf einer griechischen Insel statt. . Ihre Rezeption in der bildenden Kunst zeugt davon, dass sie als ‚orientalisch‘ aufgefasst wurde: vgl. dazu etwa Alexandre-Marie Colins Gemälde Don Juan et Haydée von 1837 (https://matthiesengallery.com/work_of_art/don-juan-and-haydee). Lord Byron selbst ließ sich 1813 von Thomas Phillips in albanischer, orientalisch anmutender Tracht malen.

[6] So als Mercédès ihn davon überzeugt, ihren Sohn Albert nicht umzubringen (vgl. LXXXXIX, 1102), als von der Beziehung zwischen Valentine und Maximilien unterrichtet wird (vgl. XCIV, 1149) und als er vom Tod des kleinen Édouard erfährt (vgl. CXII, 1328 f.).

[7] Die fiktionsinternen Zeitangaben, die sich mit historischen Daten kombinieren lassen, finden sich im Kapitel LXXVII.

[8] Zu dieser externen Fokalisierung gehört aber auch die Beschreibung pathognomischer Zeichen, die auf die im Inneren brodelnden Affekte verweisen – und auf den erhabenen Willen, der diese bändigt. Vgl. etwa die erste Begegnung Monte-Cristos mit Fernand und Mercédès in Paris: „la pâleur livide qui s’étendait sur les joues du comte“, „le frisson nerveux qui effleura ses épaules et sa poitrine“, „on eût dit que ses pieds étaient cloués au parquet comme ses yeux sur le visage du comte de Morcerf“, „il était plus pâle encore Mercédès“ (XLI, 520, 524 u. 526). Stets handelt es sich um indexikalische Zeichen, die auf einen undarstellbaren Gefühlshaushalt verweisen.

[9]  Dieser Gedanke ist im Dialog mit einem Vortrag entstanden, den Ralf Junkerjürgen am 1. Juli 2022 auf einer Tagung der Forschungsgruppe gehalten hat: „‚[Q]ue le Dieu vengeur me cède sa place‘: Spannung und Transzendenz in Alexandre Dumas’ Le Comte de Monte-Cristo“.

[10] Die Gemeinde der Katalanen soll seit drei bis vier Jahrhunderten in Marseille leben – sie müsste also in etwa zwischen 1415 und 1515 nach Marseille gekommen sein (III, 21). Ob es sich um Mauren oder Morisken handelt, die im Lauf der Reconquista aus Spanien fliehen, lässt sich nicht sagen. Die ursprünglich muslimische Bevölkerung war in Katalonien (v.a. in Valencia) sehr zahlreich; dass ein ganzes Dorf geschlossen auswandert, müsste zudem schwerwiegende politische Gründe haben. Dumas lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Mercédès mit der maurisch geprägten Kultur Spaniens verbunden ist: „Ce village construit d’une façon bizarre et pittoresque, moitié maure, moitié espagnole, est celui que l’on voit aujourd’hui habité par les descendants de ces hommes“ (III, 21).